Lolita (German)
ich mich erinnern kann, wurde der initiale Inspirationsschauer von einem Zeitungsartikel über einen Menschenaffen im Jardin des Plantes ausgelöst, der, nachdem ihn ein Wissenschaftler monatelang getriezt hatte, die erste je von einem Tier hingekohlte Zeichnung hervorbrachte: Die Skizze zeigte die Gitterstäbe des Käfigs der armen Kreatur. Der Impuls, den ich hier festhalte, hatte keine direkte Beziehung zu dem sich daraus ergebenden Gedankengang, der indessen zu einem Prototyp meines vorliegenden Romans führte, einer Kurzgeschichte von etwa dreißig Seiten Länge. Ich schrieb sie auf russisch, der Sprache, in der ich seit 1924 Romane geschrieben hatte (die besten von ihnen sind nicht ins Englische übersetzt, und alle sind aus politischen Gründen in Rußland verboten). Der Mann war Mitteleuropäer, das anonyme Nymphchen Französin, und die Orte der Handlung waren Paris und die Provence. Ich ließ ihn die kranke Mutter des kleinen Mädchens heiraten, die bald darauf starb, und nach einem mißglückten Versuch, die Waise in einem Hotelzimmer zu mißbrauchen, warf sich Arthur (das war sein Name) unter die Räder eines Lastwagens. In einer Kriegsnacht mit blauem Papier über den Lampen las ich die Geschichte einer Gruppe von Freunden vor -Mark Aldanow, zwei Sozialrevolutionären und einer Arztin; aber die Sache gefiel mir nicht, und einige Zeit nach meiner Übersiedlung nach Amerika im Jahre 1940 vernichtete ich sie.
Ungefähr 1949 begann in Ithaca im Norden des Staates New York das Pulsen, das nie ganz aufgehört hatte, mich von neuem zu plagen. Mit frischer Kraft traten Kombinationskunst und Inspiration zusammen und verwickelten mich in eine abermalige Behandlung des Themas, dieses Mal auf englisch - der Sprache meiner ersten Gouvernante in St. Petersburg, circa 1903, einer Miss Rachel Home. Das Nymphchen hatte jetzt zwar einen Spritzer irischen Bluts, war aber noch immer so ziemlich das gleiche Girl, und die Grundidee, den Mann ihre Mutter heiraten zu lassen, blieb ebenfalls erhalten; doch im übrigen bekam das Buch ein ganz neues Gesicht, und heimlich waren ihm die Krallen und Schwingen eines Romans gewachsen.
Das Buch entwickelte sich nur langsam; ich unterbrach die Arbeit oft und befaßte mich mit anderen Dingen. Etwa vierzig Jahre hatte es mich gekostet, Rußland und Westeuropa zu erfinden, und nun stand ich vor der Aufgabe, Amerika zu erfinden. Lokale Ingredienzien zu erlangen, die es mir gestatten würden, dem Gebräu individueller Phantasie ein Körnchen durchschnittlicher «Realität» (eines der wenigen Worte, die ohne Anführungszeichen nichts bedeuten) beizumischen, erwies sich mit fünfzig als ein sehr viel schwierigeres Vorhaben als im Europa meiner Jugendtage, damals, als Empfänglichkeit und Gedächtnis auf der Höhe waren und ganz automatisch funktionierten. Andere Bücher drängten sich dazwischen. Ein- oder zweimal war ich drauf und dran, das unvollendete Manuskript zu verbrennen, und hatte meine Juanita Dark auch schon bis in den Schatten getragen, den der schiefe Müllverbrennungskorb auf den unschuldigen Rasen warf, als mich der Gedanke innehalten ließ, daß das Gespenst des vernichteten Buches für den Rest meines Lebens in meinen Akten spuken würde.
Jeden Sommer gehen meine Frau und ich auf Schmetterlings) agd. Die Exemplare werden in wissenschaftlichen Institutionen aufbewahrt, etwa im Museum für Vergleichende Zoologie in Harvard oder im Entomologischen Museum der Cornell-Universität. Die Etiketts mit den Namen der Fundorte, die unter diesen Faltern angebracht sind, werden irgendeinem Wissenschaftler des einundzwanzigsten Jahrhunderts, sofern er Geschmack an obskuren biographischen Details hat, eine wahre Fundgrube sein. An den Hauptstätten unserer Schmetterlings-Reisen wie Telluride (Colorado), Afton (Wyoming), Porta (Arizona) und Ashland (Oregon) nahm ich abends und an wolkenverhangenen Tagen die Arbeit an Lolita energisch wieder auf. Im Frühjahr 1954 beendete ich die Reinschrift und begann sogleich, meine Fühler nach einem Verleger auszustrecken.
Zuerst war ich so kleinlaut, dem Rat eines vorsichtigen alten Freundes zu folgen und mir auszubedingen, daß das Buch anonym erscheine. Ich bezweifle, daß ich jemals bedauern werde, bald danach den Entschluß gefaßt zu haben, Lolita mit vollem Namen zu signieren, weil ich einsah, wie sehr eine Tarnung Verrat an meiner eigenen Sache wäre. Die vier amerikanischen Verleger W, X, Y, Z, denen das Manuskript nacheinander angeboten wurde
Weitere Kostenlose Bücher