Lolita (German)
bevorzugte Winkel, die man sich bereitwilliger in Erinnerung ruft und die einem mehr am Herzen liegen als der Rest. Ich habe Lolita nicht wiedergelesen, seit ich im Frühjahr 1955 die Druckfahnen durchsah, aber ich empfinde das Buch als wohltuende Gegenwart, jetzt, da es ruhig um das Haus steht wie ein Sommertag, von dem man weiß, daß er hinter dem Morgendunst hell und strahlend ist. Und wenn ich in diesem Sinne an Lolita denke, scheine ich mir mit besonderer Freude immer Bilder herauszusuchen wie das des höflichen Mr. Taxovich oder die Namensliste aus der Ramsdaler Schule oder Charlotte, als sie «wasserdicht» sagt, oder Lolita, wie sie in Zeitlupe auf Humberts Geschenke zugeht, oder die Portraits, die die stilisierte Dachbude Gaston Godins zieren, oder den Friseur in Kasbeam (der mich einen Monat Arbeit kostete) oder Lolita beim Tennisspielen oder das Krankenhaus von Elphinstone oder die blasse, schwangere, geliebte, unwiederbringliche Dolly Schiller, die in Gray Star (der Hauptstadt dieses Buches) stirbt, oder die hellen Geräusche, die aus dem tief unten im Tal liegenden Städtchen herauf zum Bergpfad dringen (wo ich das erste bekanntgewordene Weibchen von Lycaeides sublivens Nabokov fing). Dies sind die Nerven des Romans. Dies sind die geheimen Stellen, die unterbewußten Koordinaten, mit deren Hilfe das Buch konzipiert ist-obgleich ich damit rechne, daß jene, die die Lektüre mit dem Eindruck begonnen haben, es handle sich hier um so etwas wie Die Memoiren eines Freudenmädchens oder Les Amours de Milord Grosvit , diese und andere Szenen nur überfliegen oder keine Notiz von ihnen nehmen oder noch nicht einmal bis zu ihnen gelangen. Daß mein Roman verschiedene Anspielungen auf die physischen Bedürfnisse eines Pervertierten enthält, ist wohl wahr. Aber schließlich sind wir keine Kinder, keine analphabetischen jugendlichen Delinquenten, keine Schüler in einem englischen Internat, die nach einer Nacht homosexueller Umtriebe das Paradox über sich ergehen lassen müssen, die Klassiker in gesäuberten Ausgaben zu lesen.
Es ist kindisch, ein Werk der Fiktion zu lesen, um Aufschluß über ein Land oder über eine Gesellschaftsklasse oder über den Autor zu erhalten. Und doch war einer meiner wenigen engen Freunde nach der Lektüre Lolitas aufrichtig bekümmert, daß ich (ich!) «unter so deprimierenden Menschen» lebte - während ich selber doch nur ein einziges Unbehagen verspürte, nämlich das, in meinem Atelier unter verworfenen Körperteilen und unvollendeten Torsos zu leben.
Nachdem die Olympia Press in Paris das Buch veröffentlicht hatte, deutete ein amerikanischer Kritiker an,
Lolita sei der Niederschlag meiner Liebesaffaire mit dem romantischen Roman. Setzte man für romantischen Roman «englische Sprache» ein; so würde diese elegante Formel richtiger. Hier aber, merke ich, steigt meine Stimme viel zu schneidend an. Keiner meiner amerikanischen Freunde hat meine russischen Bücher gelesen, und so muß jedes Urteil, das sich auf meine englischen gründet, zwangsläufig unscharf bleiben. Meine private Tragödie, die niemanden etwas angehen kann, ja niemanden angehen sollte, besteht darin, daß ich mein natürliches Idiom aufgeben mußte, meine ungebundene, reiche und unendlich gefügige russische Sprache, um sie gegen eine Art zweitklassiges Englisch einzutauschen, welchem alle jene Requisiten abgehen -der Trickspiegel, der schwarzsamtene Hintergrund, die mitschwingenden Assoziationen und Traditionen-, deren sich der heimische Illusionist mit wehenden Frackschößen bedienen kann, um bei seinen Kunststücken das Erbe auf ganz eigene Weise zu transzendieren.
12. November 1956 Cornell University Ithaca, New York
Nachwort zur russischen Ausgabe
Allein mein philologisches Gewissen hat mich bewogen, den letzten Absatz des vorstehenden Nachworts zur amerikanischen Ausgabe beizubehalten. Den russischen Leser, der sich an die Bücher von «W. Sirin», die in den dreißiger und vierziger Jahren im Ausland erschienen sind, nicht erinnert, sie nicht verstanden oder überhaupt nicht gelesen hat, wird er indessen wohl nur verwirren. Vor dem amerikanischen Leser habe ich mit solchem Nachdruck von der Überlegenheit meines russischen Sprachstils über meinen englischen gesprochen, daß mancher Slawist zu Recht meinen könnte, meine Übersetzung der Lolita müsse nun hundertmal besser sein als das Original. Mich jedoch quält heute nur das Kreischen meiner rostigen russischen Saiten. Die Geschichte dieser
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