London NW: Roman (German Edition)
verbindet, doch gleich darauf, als es ihr wieder einfällt, beißt sie sich auf die Lippe, streckt die Hand nach der Tür, lässt die kleine Glocke klingeln.
– Das ist sie. Das war sie. Die gerade Zigaretten gekauft hat.
Leah rechnet mit einer gelungenen Flucht. Aber Shar hat kein Glück. Sie haben beide keines. Eine ältere Frau von beträchtlichen Ausmaßen kommt gerade herein, als Shar verschwinden will. Sie vollführen ein peinliches Tänzchen im Türrahmen. Michel ist schnell und unerschrocken und lässt sich nicht aufhalten.
– Diebin! Du Diebin! Wo ist unser Geld?
Leah greift nach dem anklagend ausgestreckten Finger und zieht ihn nach unten. Jede einzelne Sommersprosse glüht, und die Röte arbeitet sich den Hals hoch, überflutet ihr Gesicht. Shar beendet das Tänzchen. Rempelt die nette Dame aus dem Weg. Und rennt.
5
Leah glaubt an Sachlichkeit im Schlafzimmer.
Hier liegen ein Mann und eine Frau. Der Mann ist schöner als die Frau. Aus diesem Grund gab es Zeiten, da befürchtete die Frau, den Mann mehr zu lieben als er sie. Er hat das immer bestritten. Er kann allerdings nicht bestreiten, dass er schöner ist. Für ihn ist es leichter, schön zu sein. Er hat sehr dunkle Haut, die langsamer altert. Er hat die solide westafrikanische Knochenstruktur. Hier liegt ein Mann nackt auf einem Bett. In Die Verachtung liegt Brigitte Bardot nackt auf einem Bett. Wäre dieser Mann bloß wie Brigitte Bardot, die nie Kinder bekommen hat und Tiere vorzieht. Dafür ist sie allerdings in anderen Punkten unflexibel. Die Frau versucht, mit dem Mann, mit dem sie verheiratet ist, über die verzweifelte junge Frau zu reden, die bei ihr geklingelt hat. Was soll das heißen, sie hat gelogen? War es denn gelogen, dass sie verzweifelt war? Sie war schließlich verzweifelt genug, um zu klingeln. Ihr Mann begreift nicht, warum das die Frau so beschäftigt. Aber ihm fehlt ja auch eine entscheidende Information. Er kann der verborgenen weiblichen Logik unmöglich folgen. Er kann nur versuchen, ihr zuzuhören. Ich will einfach wissen, ob ich das Richtige getan habe, sagt die Frau, ich weiß einfach nicht, ob ich
Da unterbricht sie der Mann und sagt
– Hast du noch den Stecker für das Dings bei dir drüben? Meiner ist weg. Was willst du denn tun? Das ist eben so. Eine Cracksüchtige, die klaut. So spannend ist das auch wieder nicht. Komm her, dann
Als sie sich kennenlernten, der Mann und die Frau, da war die körperliche Anziehung unmittelbar und überwältigend. Das ist immer noch so. Wegen dieser ungewöhnlich heftigen Anziehung haben sie eine komische Chronologie. Erst kam immer das Körperliche.
Bevor er sie ansprach, hatte er ihr schon zweimal die Haare gewaschen.
Bevor sie den Nachnamen des anderen wussten, hatten sie schon Sex.
Bevor sie vaginalen Sex hatten, hatten sie schon Analsex.
Bevor sie einander heirateten, hatten beide mehrere Dutzend Sexualpartner. Klubromanzen, Quickies auf Ibiza. Die Neunziger, dieses rauschhafte Jahrzehnt! Sie hatten geheiratet, obwohl sie nicht zu heiraten brauchten und obwohl sie sich beide geschworen hatten, das nie zu tun. Schwer zu sagen, warum sie bei dieser ganz speziellen Variante der »Reise nach Jerusalem« schließlich beieinandergeblieben waren. Es hatte etwas mit Gutmütigkeit zu tun. Auf der Tanzfläche der Klubs fand man vieles, aber Gutmütigkeit war selten dabei. Ihr Mann war gutmütiger als jeder andere, den Leah Hanwell kannte, mit Ausnahme ihres Vaters. Und dann waren sie selbst ganz überrascht, wie konventionell sie eigentlich waren. Die Hochzeit machte Pauline Freude. Sie beruhigte Michels besorgte Eltern. Und sie freuten sich, dass ihre Familien sich freuten. Darüber hinaus besaßen die Eigennamen »Mann« und »Frau« eine Macht, mit der keiner der Beteiligten gerechnet hätte. Falls das ein Voodoo-Zauber war, kam er ihnen gerade recht. Er sorgte dafür, dass sie nicht mehr im Kreis um leere Stühle herumtanzen mussten, dabei aber nie zuzugeben brauchten, dass sie das leid waren.
Es ging alles rasend schnell.
Sie waren einmal schwanger gewesen, vor ihrer Hochzeit, als sie gerade zwei Monate zusammen waren, und hatten abgetrieben.
Sie hatten geheiratet, bevor sie Freunde geworden waren, oder anders gesagt:
Ihre Hochzeit war der Auslöser ihrer Freundschaft.
Sie hatten geheiratet, bevor sie die vielen kleinen Unterschiedlichkeiten hinsichtlich Herkunft, Träumen, Bildung, Zielen bemerkten. Beispielsweise gibt es einen Unterschied zwischen den Zielen armer
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