London NW: Roman (German Edition)
einfach Rhythmus gibt. Sie ordnet ihre Miene so, dass sie Mitleid ausdrückt. Shar schließt die Augen, nickt. Sie macht rasche Bewegungen mit dem Mund, spricht mit sich selbst, unhörbar. Zu Leah sagt sie
– Sie sind ’n guter Mensch.
Shars Zwerchfell hebt und senkt sich jetzt langsamer. Das Tränenzittern lässt nach.
– Danke, ja? Sie sind ’n guter Mensch.
Shars kleine Hände umklammern die Hände, die sie halten. Shar ist winzig. Ihre Haut wirkt trocken, wie Pergament, Spuren von Schuppenflechte an Stirn und Kinn. Das Gesicht vertraut. Leah hat es schon oft auf der Straße gesehen. Eine Eigenheit der Londoner Dörfer: Gesichter ohne Namen. Die Augen einprägsam, rund um das dunkle Braun sieht man helles Weiß, oben wie unten. Ein gieriger Ausdruck, als wollte sie alles verschlingen, was sie sieht. Lange Wimpern. So sehen Babys aus. Leah lächelt. Das Lächeln, das zurückkommt, ist ausdruckslos, zeigt kein Erkennen. Niedlich schief. Leah ist nur die gute Fremde, die die Tür geöffnet und nicht wieder zugeschlagen hat. Immer wieder sagt Shar: Sie sind’n guter Mensch, ’n guter Mensch – so lange, bis der Genussfaden reißt, der sich durch den Satz zieht (natürlich liegt für Leah ein gewisser Genuss darin). Leah schüttelt den Kopf. Nein, nein, nein, nein.
Leah dirigiert Shar in die Küche. Große Hände auf den schmalen Mädchenschultern. Sie betrachtet Shars Pobacken, die sich über den Bund der runtergerollten Jogginghose wölben, die kleine, flaumige Kuhle unten am Rücken, stark ausgeprägt und verschwitzt von der Hitze. Die schmale Taille, die in Kurven übergeht. Leah, schlaksig wie ein Junge, hat kaum Hüften. Vielleicht braucht Shar ja Geld. Sauber sind die Klamotten nicht. An der rechten Kniekehle hat der schäbige Stoff einen langen Riss. Dreckige Fersen schauen aus halb kaputten Flip-Flops. Sie riecht.
– Herzinfarkt! Ich frag die ganze Zeit: Stirbt sie? Stirbt sie? Stirbt sie? Die fahren sie im Krankenwagen weg – aber krieg ich vielleicht ’ne Antwort? Ich hab drei Kinder daheim, die sind jetzt allein, ja – ich muss zum Krankenhaus – und die labern nur was von Auto. Ich hab kein Auto! Ich so: Helfen Sie mir – aber kein Mensch rührt ’nen scheiß Finger, um mir zu helfen.
Leah fasst Shar am Handgelenk, setzt sie auf einen Stuhl an den Küchentisch und drückt ihr die Küchenrolle in die Hand. Wieder legt sie ihr die Hände auf die Schultern. Ihre Stirnen berühren sich beinahe.
– Schon gut, ich versteh’s ja. Welches Krankenhaus?
– Das ... ich hab’s nicht aufgeschrieben ... In Middlesex oder so – jedenfalls weit weg. Weiß nicht genau.
Leah drückt Shar die Hände.
– Also, ich habe kein Auto – aber ...
Blick auf die Uhr. Zehn vor fünf.
– Wenn Sie vielleicht noch so zwanzig Minuten warten? Wenn ich ihn gleich anrufe, dann ist er ... Oder vielleicht ein Taxi ...
Shar löst die Hände aus Leahs Griff. Sie presst die Fingerknöchel an die Augen, atmet tief aus: Die Panik ist vorbei.
– Ich muss da hin ... Aber ich hab keine Nummer – nix – kein Geld ...
Shar rupft sich mit den Zähnen ein Stückchen Haut vom rechten Daumen. Etwas Blut quillt hervor und verharrt. Leah fasst Shar wieder am Handgelenk. Zieht ihr die Finger aus dem Mund.
– Vielleicht das Middlesex? So heißt das Krankenhaus, nicht der Ort. Richtung Acton, oder?
Die Miene des Mädchens ist verträumt, verlangsamt. Touched, sagt man in Irland. Wunderlich. Möglich, dass sie ein wenig wunderlich ist.
– Ja ... kann sein ... doch, nein, doch, stimmt. Das Middlesex. Stimmt.
Leah richtet sich auf, zieht das Handy aus der Gesäßtasche und wählt.
– ICH KOMM MORGEN VORBEI .
Leah nickt, und Shar redet weiter, ohne Rücksicht auf das Telefonat.
– ICH ZAHL’S ZURÜCK. MORGEN KRIEG ICH MEINEN SCHECK, JA ?
Leah lässt das Telefon am Ohr, lächelt, nickt, gibt ihre Adresse durch. Sie mimt Teetrinken. Doch Shar schaut auf die Apfelblüten. Mit dem Saum ihres schmuddeligen T-Shirts wischt sie sich Tränen aus dem Gesicht. Ihr Nabel ist ein fester Knoten, bündig mit der Bauchdecke, ein auf einen Diwan genähter Knopf. Leah gibt ihre eigene Nummer an.
– Das wär’s.
Sie wendet sich zur Anrichte, greift mit der freien Hand nach dem Wasserkocher und lässt ihn fast fallen, weil sie dachte, er wäre leer. Etwas Wasser schwappt heraus. Sie stellt den Kocher wieder auf seinen Sockel und bleibt, wo sie ist, mit dem Rücken zu ihrem Gast. Einen anderen Platz, an dem sie ganz
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