London NW: Roman (German Edition)
meine ja nur, du hättest das Wesen des Menschen vielleicht besser durchschaut. Gibt es denn was Neues an der Front?
– Welcher Front?
– An der Oma-Front. Da, wo die biologische Uhr tickt.
– Die tickt weiter.
– Na ja. Mach dir nicht zu viele Sorgen, Schatz. Es kommt, wenn es kommen soll. Ist Michael da? Gibst du ihn mir mal?
Zwischen Pauline und Michel herrscht nichts als Misstrauen und Unverständnis, bis auf jene seligen Situationen, früher selten, inzwischen aber immer häufiger, wenn Leah sich idiotisch verhalten hat und dieser Umstand aus Erzfeinden Verbündete macht. Pauline aufgebracht, knallrot und laut. Michel bewaffnet mit seiner kleinen Sammlung hart erkämpfter Redewendungen, dem kostbarsten Besitz eines jeden Einwanderers: unterm Strich, du weißt schon, als wär das noch nicht genug, und ich sag noch, und ich so, der war gut, den muss ich mir merken .
– Unfassbar. Ich sag dir, Pauline, ich wünschte, ich wäre da gewesen. Ich wünschte wirklich, ich wäre da gewesen.
Um der Unterhaltung zu entfliehen, geht Leah in den Garten. Ned von oben liegt in Leahs Hängematte, die der Allgemeinheit gehört und folglich gar nicht Leahs Hängematte ist. Ned raucht sein Gras unter dem Apfelbaum. Die bereits ergrauende Löwenmähne, gezähmt von einem gewöhnlichen Gummiband. Auf seinem Bauch liegt eine alte Leica und wartet darauf, dass über London NW die Sonne untergeht, denn die Sonnenuntergänge sind in diesem Teil der Welt von seltsamer Intensität. Leah nähert sich dem gemeinsamen Baum und macht das Victoryzeichen.
– Kauf dir selber was.
– Ich kiff nicht mehr.
– So siehst du aus.
Ned steckt ihr den Joint zwischen die gespreizten Finger. Sie zieht kräftig daran, es kratzt in der Kehle.
– Langsam. Das ist aus Afghanistan. Psychoaktiv!
– Ich bin auch schon groß.
– Achtzehn Uhr dreiundzwanzig heute. Wird immer länger.
– Bis es wieder kürzer wird.
– Wow!
Fast alles, was Leah zu ihm sagt, findet Ned irgendwie philosophisch, so sachlich oder banal es auch sein mag. Als ernsthafter Kiffer erstarrt die Zeit um ihn. Die einfachsten Dinge nehmen eine unermessliche Bedeutung an. Leah hat das Gefühl, als wäre er achtundzwanzig geblieben, seit sie sich vor zehn Jahren kennengelernt haben.
– Hey, ist dein Besuch noch mal aufgetaucht?
– Nein.
Das geht Ned gegen die optimistische Natur. Leah sieht ihm dabei zu, wie er vergeblich nach einer passenden Erklärung sucht.
– Pünktlich auf die Minute. Und was für ’ne Schönheit!
Leah sieht nach oben. Der Himmel hat sich rosa verfärbt. Die Einflugschneisen von Heathrow malen weiße Streifen hinein. In der Küche hat Michel seinen Spaß.
– Der ist gut. Den muss ich mir merken. Du liebe Zeit!
4
Der junge Sikh langweilt sich. Schweiß läuft ihm aus dem Turban. Er schaut auf den Ladentisch seines Vaters, wo eine Taschenladung Kleingeld versucht, auf den Preis von zehn Rothmans zu kommen. Ein billiger Ventilator surrt ohne Sinn. Leah langweilt sich ebenfalls, sieht Michel dabei zu, wie er Backwaren betastet, die ihm ohnehin nicht schmecken werden, die niemals so gut sein werden wie in Frankreich. Das liegt daran, dass sie im Hinterzimmer eines Kiosks gleich an der Willesden Lane aufgebacken wurden. Richtige Croissants kriegt man sonntags auf dem Biomarkt, auf dem Hof von Leahs alter Grundschule. Heute ist Dienstag. Von ihren neuen Nachbarn weiß Leah, dass die Quinton Primary zwar gut genug ist, um dort Croissants zu kaufen, aber keineswegs gut genug, um seine Kinder dorthin zu schicken. Olive staubsaugt die Krümel vom Ladenboden. Auch sie ist im Ansatz französisch, so wie Michel. Ihr Großvater hat mal einen Preis in Paris gewonnen. Anders als Michel ist sie bei Croissants aber nicht pingelig. Weiß-orange, mit seidigen Renaissanceohren. Albern und angebetet.
– müssen endlich zu einem richtigen Arzt gehen. In eine Klinik. Wir versuchen es doch ständig. Aber nichts. Du wirst dieses Jahr fünfunddreißig.
Französisch ausgesprochen: nischts. Früher waren sie gleich alt. Jetzt altert Leah in Hundejahren. Ihre Fünfunddreißig zählen siebenmal mehr als seine und sind siebenmal wichtiger, so wichtig, dass er ihr die Zahl ständig in Erinnerung rufen muss, falls sie sie vergessen sollte.
– Wir können uns keine Klinik leisten. Was denn überhaupt für eine Klinik?
Die kleine Gestalt an der Theke dreht sich um. Zuerst, vor allen anderen, lächelt sie Leah an, aus dem Impuls heraus, der Erkennen mit Freude
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