London Road - Geheime Leidenschaft
den Blick nach oben richtete und Cole mit besorgter Miene auf der Treppe stehen sah, schnappte ich erschrocken nach Luft.
Cams Hände strichen beruhigend über meine Schultern, und ich konnte seinem Blick nicht länger ausweichen. Wir sahen uns an, und ich wurde regelrecht von Gefühlen überschwemmt.
Scham.
Wut.
Dankbarkeit.
Nervosität.
Angst.
»Tut mir leid«, murmelte ich. »Cole und ich gehen jetzt besser wieder rein.«
»Nein.«
Überrascht blinzelte ich Cam an. Er schien aufgewühlt, aber zugleich entschlossen. »Komm mit zu mir, ich koche dir einen Kaffee.«
»Ich muss erst mit Cole reden.« Mein kleiner Bruder war Zeuge meines brutalen Übergriffs auf unsere Mutter geworden. Ich hatte furchtbare Angst davor, was er jetzt von mir denken musste, und verspürte das dringende Bedürfnis, ihm mein Verhalten irgendwie zu erklären.
»Das kannst du später noch machen. Erst mal brauchst du ein bisschen Zeit für dich selbst.«
Beim Gedanken, Cole schon wieder ganz allein mit Mum in der Wohnung zu lassen, ergriff mich Panik. »Ohne mich geht er da nicht wieder rein.«
»Hier.« Endlich ließ Cam mich los und zog sein Portemonnaie aus der hinteren Jeanstasche. Ich beobachtete ihn voller Argwohn, als er einen Zwanziger herausfischte und ihn Cole hinhielt. »Hast du Lust, ein paar Freunde anzurufen und mit ihnen ins Kino zu gehen?«
Cole strahlte eine Ruhe und Souveränität aus, als er die Treppe herunterkam, die mich sprachlos zurückließ. Jeden Tag machte er einen weiteren Schritt in Richtung Erwachsenwerden – an Tagen wie diesem sowieso. Verständnis und Reife sprachen aus seinem Blick, als er den Geldschein respektvoll entgegennahm. »Klar, lässt sich machen.«
»Aber …« Mein Protest wurde von Cole erstickt, der mich ansah und schweigend den Kopf schüttelte, als wäre er der Elternteil und ich das Kind. Überrumpelt klappte ich den Mund zu und beobachtete in einer Mischung aus Stolz und Unbehagen, wie Cole Cam mit zusammengekniffenen Augen fixierte.
»Kann ich sie dir anvertrauen?«
Cam seufzte zunächst, doch dann beantwortete er Coles Frage, als spräche er zu einem gleichberechtigten Erwachsenen. »Das habe ich nicht anders verdient, ich weiß. Aber ich verspreche dir, dass ich deine Schwester ab jetzt mit dem Respekt behandle, den sie verdient hat.«
Fassungslos verfolgte ich diesen Wortwechsel. Ich war mit den Nerven völlig am Ende, was es mir nicht gerade leichter machte, zu durchschauen, was zwischen den beiden ablief. Vermutlich erlaubte ich Cole deshalb, das Geld anzunehmen, obwohl ich wusste, dass Cam es gut selbst brauchen konnte. Und diesem Zustand war es wohl auch zu verdanken, dass ich mich von Cam ohne nennenswerten Widerstand in seine Wohnung bugsieren ließ.
Genau wie wir hatte er die Wohnung nicht gekauft, sondern bloß gemietet. Sie war in neutralen Farben gehalten, hatte aber dringend einen neuen Anstrich nötig. Cams Möbel waren praktisch und gemütlich, und mit Ausnahme einer riesigen schwarzen Ledercouch und einem dazu passenden Sessel schien er bei der Anschaffung keinen großen Wert auf Ästhetik gelegt zu haben. Er schob mich zur Couch, auf der ich benommen Platz nahm. Im Zimmer stapelten sich noch die Umzugskisten.
»Tee? Kaffee?«
Ich schüttelte den Kopf. »Wasser, bitte.«
Nachdem Cam mit einem Glas Wasser für mich und einem Kaffee für sich zurückgekommen war, setzte er sich in den Sessel mir gegenüber. Mein Herz raste.
Was machte ich eigentlich hier? Wieso war Cam auf einmal so nett zu mir? Was wollte er? Ich sollte besser zurück nach oben gehen und mich den Konsequenzen meines Handelns stellen.
»Jo«, kam plötzlich seine tiefe, raue Stimme. Ich hatte gedankenversunken an die Decke gestarrt, und sobald ich mich nun zu ihm umdrehte, spürte ich die Anspannung in meinem Körper. Er blickte mir forschend ins Gesicht, als wollte er in mich hineinsehen und all meine Geheimnisse ergründen. Ich hatte Mühe, weiterzuatmen, so intensiv war dieser Blick. »Was ist dir passiert, Jo? Wie bist du in so eine Lage geraten?«
Ein bitteres Lachen kam mir über die Lippen. Die Frage stellte ich mir auch jeden Tag. »Ich vertraue dir nicht, Cameron. Wieso sollte ich dir irgendwas über mein Leben erzählen?«
Seine Sorge machte Bedauern Platz. Es kam mir aufrichtig vor. »Du hast recht. Und ich kann nicht mal ansatzweise ausdrücken, wie schlecht ich mich fühle, weil ich dich wegen Cole so angegangen bin. Er ist zu mir runtergekommen, um mir die Meinung zu
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