London
gutes Stück weitergekommen. Segovax sah noch, wie das letzte Floß ans Ufer gezogen wurde. »Werden sie bald kämpfen?« fragte er.
Sein Vater blickte ihn überrascht an. »Wußtest du das nicht? Sie sind zur Küste unterwegs. Die Römer kommen.«
Branwen hatte noch geschlafen, als Segovax und der Vater aufgebrochen waren, und der Tag schien ziemlich langweilig zu werden. Ihre Mutter setzte sich am Morgen mit ein paar anderen Frauen vor die Hütte und flocht einen Korb. Die Frauen unterhielten sich leise, während die Kinder spielten. Und so wäre sicher der ganze Tag verlaufen, wenn nicht der Druide zu Besuch gekommen wäre.
Niemand hatte mit ihm gerechnet. Er ruderte eigenhändig einen Einbaum. Mit der stillen Autorität seiner uralten Zunft befahl er den Menschen im Weiler, ihm einen Hahn und drei Hühner zu geben, damit er sie opfern könne, und ihn zu den heiligen Orten am anderen Flußufer zu begleiten. Die Dorfbewohner folgten ihm auf Flößen und Coracles über den breiten Strom. Sie begaben sich nicht direkt zu den Zwillingshügeln von Londinos, sondern erst zu der breiten Bucht, wo der Fluß an der westlichen Seite der Hügel herabkam. Sie gingen an der linken Seite der Bucht an Land und liefen am Ufer entlang zu einer Gruppe von drei rauhen, etwa kniehohen Steinen, die um ein Loch im Boden gruppiert waren.
Es war ein heiliger Brunnen, der nicht vom Fluß, sondern von einer Quelle gespeist wurde. Hier lebte eine wohlwollende Wassergöttin. Der Druide nahm eines der Hühner, murmelte ein Gebet, schlitzte dem Vogel den Hals auf und warf ihn in den Brunnen.
Dann kehrten sie zu den Booten zurück, überquerten die Bucht und gingen den Abhang des westlichen Hügels hinauf. Kurz vor dem Gipfel gab es hier eine trockene Torfebene, von der aus man einen guten Ausblick über den Fluß hatte. In ihrer Mitte befand sich eine kleine, in den Boden eingegrabene kreisrunde Vertiefung. Dies war die Opferstelle. Hier opferte der Druide die restlichen Tiere. Er tröpfelte ihr Blut auf das Gras innerhalb des Kreises und murmelte: »Wir haben Blut für euch vergossen, Götter des Flusses, der Erde und des Himmels. Schützt uns nun in unserer Not.« Dann nahm er die toten Tiere, befahl den Dorfbewohnern, zu ihren Häusern zurückzukehren, und begab sich hinüber zu dem anderen Hügel, um allein mit den Göttern zu reden. Die Menschen des Weilers gingen zu ihren Booten und Flößen zurück. Sie waren zufrieden, daß sie alles getan hatten, was sie tun konnten. Alle waren zufrieden, bis auf Cartimandua.
Branwen wußte, daß ihre Mutter sonderbar war. Warum sonst sollte Cartimandua einen der Männer bitten, ein Coracle für sie zurückzulassen? Warum stieg sie wieder den Hügel hinauf und suchte nach dem Druiden? Und warum war ihre Mutter so blaß und aufgeregt?
Cartimanduas Verhalten hatte einen einfachen Grund. Wenn der Druide sie so unerwartet zu diesem Opfer versammelt hatte, konnte dies nur eines bedeuten: Der Priester hatte vorhergesehen, daß Gefahr drohte. Die Römer kamen. Und wieder einmal empfand sie schmerzhaft ihr Dilemma. Hatte sie das Falsche getan? Was konnte sie tun? Sie wußte zwar kaum, was sie den Druiden fragen sollte, hatte sich jedoch trotzdem auf die Suche nach ihm gemacht. Sicher konnte er ihr einen Rat geben, bevor es zu spät war. Sie trug das Baby und zerrte Branwen hinter sich her. So überquerten sie den westlichen Hügel und das kleine Tal zwischen den beiden Abhängen und stiegen nun zum Gipfel des östlichen Hügels hinauf. Aber auch dort war der alte Mann nicht. Dann sah sie eine dünne Rauchsäule von der anderen Seite des Hügels aufsteigen und eilte darauf zu.
Die dem Fluß zugewandte Seite von Londinos fiel am Osthügel nicht gleichmäßig ab, sondern formte noch eine Stufe, eine Art natürliches Freilufttheater mit einer grasigen Plattform am Flußufer als Bühne und dem Hang mit seiner Stufe als Zuschauerraum. Hier hatte der Druide ein kleines Feuer errichtet.
Cartimandua zögerte, und zwar aus zwei Gründen. Zum einen sah sie, daß der Druide die Opfertiere entbeint hatte und nun die Knochen in das Feuer warf. Dies war einer der geheimsten Riten der keltischen Priester, um ein Orakel zu erfragen, ein Ritus, den man nicht leichtfertig unterbrechen durfte. Der zweite Grund hatte mit dem Ort an sich zu tun – mit den Raben, die seit Menschengedenken an den Hängen in dieser Gegend des Flusses lebten.
Natürlich wußte Cartimandua, daß Raben kein böses, sondern ein gutes Omen
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