London
morgen ankommt«, hatte ihm sein Vater erklärt, »dann werden hier viertausend Streitwagen stehen.«
Sie ließen die Insel des Druiden hinter sich und ruderten eine weitere halbe Meile Richtung Süden, bis der Fluß abermals eine Biegung nach rechts machte und der Junge die Kampfreihen nicht mehr sehen konnte. Branwen war in der Sonne eingeschlafen. Die Mutter starrte schweigend auf das Wasser. Als der Fluß sich durch ein breites Tal von Wiesen und vereinzelten Bäumen wand, merkte Segovax, daß er jetzt wieder flußabwärts floß und die Strömung gegen sie war. Sie hatten den Einflußbereich des Meeres hinter sich gelassen.
Sie schlugen unter Weiden ein Nachtlager auf und setzten am nächsten Morgen ihren Weg fort. Leute aus anderen Weilern schlossen sich ihnen an. Einen weiteren ruhigen, sonnigen Tag lang kämpften sie sich langsam den Fluß hinauf. Niemand merkte, daß Segovax gegen Abend sehr aufgeregt wurde. Es war Zeit für seinen geheimen Plan.
Der Mond war nicht zu sehen, doch die Sterne leuchteten hell. Die Nacht war warm. An diesem Abend hatten sie ihr Lager auf einer langen Insel aufgeschlagen. Alle waren müde von der Reise. Sie hatten ein großes Feuer errichtet und sich dann unter den Sternen zum Schlafen gelegt.
Segovax schlich so lautlos wie möglich zum Ufer. In einer Hand trug er seinen Speer. Die Leute aus den anderen Weilern hatten zwei kleine Coracles mitgebracht, von denen eines einen spitz zulaufenden Bug wie ein Kanu hatte. Es lag auf dem sumpfigen Ufer. Es war so leicht, daß er es mühelos mit einer Hand ziehen konnte. Er wollte es gerade ins Wasser gleiten lassen, als er das vertraute Geräusch kleiner Füße auf dem sumpfigen Boden hinter sich hörte. Es war Branwen. Er seufzte.
»Wohin willst du?«
»Zu Vater. Ich will mit ihm kämpfen.«
»Nimm mich mit!«
»Das kann ich nicht. Du kannst doch gar nicht kämpfen. Du bist viel zu klein dafür.«
Selbst im Dunkeln sah er, wie sie vor Wut die Fäuste ballte. »Ich komme trotzdem mit.«
»Bitte, Branwen, sei vernünftig! Gib mir einen Kuß.« Er umarmte sie. Sie schlug nach ihm. Doch bevor sie noch jemanden aufwecken konnte, hatte er das Coracle schon ganz ins Wasser geschoben und war hineingestiegen. Rasch paddelte er den Fluß hinunter in die Dunkelheit.
Er hatte es geschafft. Seit die Nachricht von der bevorstehenden Invasion zu ihnen gelangt war, hatte er heimlich seine Unternehmung geplant. Tag für Tag hatte er mit seinem Speer geübt. Und nun würde er bald neben seinem Vater kämpfen.
Die Nacht war lang. Mit Hilfe der Strömung und seinem Paddel glitt er schnell den Fluß hinab. Aber er war erst neun Jahre alt. Nach einer Stunde wurden seine Arme müde, nach zwei begannen sie zu schmerzen. Er sehnte sich nach Schlaf. Immer wieder sank ihm der Kopf auf die Brust, und er wachte mit einem Ruck auf. Dann stellte er fest, daß die Vision seines Vaters ihm Kraft gab. Ab und zu ruhte er ein wenig aus, doch das Bild seines Vaters verlieh ihm die Stärke weiterzurudern. Sie würden Seite an Seite kämpfen. Vielleicht würden sie auch Seite an Seite sterben.
Bei Morgengrauen gelangte er in die Gezeitenströmung des Flusses. Zum Glück herrschte gerade Ebbe, so daß er rasch Richtung Londinos und dem Meer getragen wurde. Als die Sonne am Himmel stand, wurde der Fluß immer breiter. Eine Stunde später näherte sich Segovax der bekannten Flußbiegung. Als er schließlich die Insel des Druiden sah, vergaß er in der Aufregung seinen Schlafmangel. Dann verschlug es ihm den Atem. Vor ihm überquerten die Römer den Fluß.
Cäsar hatte tatsächlich eine furchterregende Streitmacht zur Eroberung Britanniens versammelt: fünf disziplinierte Legionen – gut fünfundzwanzigtausend Mann, zweitausend davon zu Pferd. Auf der südöstlichen Halbinsel Kent hatte er nur ein paar Männer verloren.
Der Verband der britischen Häuptlinge zeigte bereits Auflösungserscheinungen. Cäsar wußte, daß eine Reihe wichtiger Häuptlinge zu ihm überlaufen würde, wenn er Cassivelaunus besiegte. Aber diese Flußüberquerung war kein Kinderspiel. Am Vortag hatte ihn ein keltischer Gefangener über die Pfähle im Flußbett informiert. Die Palisaden auf der anderen Seite waren stark. Solange sich die Kelten mit ihren Streitwagen in kurzen Attacken auf Cäsars Truppen stürzten, war es für die Römer fast unmöglich, sie zu besiegen. Und mit der Zeit und einer Strategie der Zermürbung würden sie es vielleicht tatsächlich schaffen, seine Truppen
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