London
über mein britisches Erbe«, hatte Penny zu seiner Frau gesagt. »Und es stellt sich heraus, daß ich eigentlich gar nichts weiß.« In seiner Schulzeit hatte man bei der Geschichte Englands und Großbritanniens fast nur die Angelsachsen behandelt. »Natürlich haben wir von den Kelten gewußt. Und dann gab es noch die Dänen und ein paar normannische Ritter.« Aber die Ausstellung über die Besiedlung Londons erzählte eine vollkommen andere Geschichte. Angeln, Sachsen, Dänen, Kelten – sie alle waren in London gewesen. Bereits zu der Zeit, als der Tower von London gebaut wurde, hatte es normannische und italienische Kaufleute gegeben, später flämische und deutsche. In jüngerer Zeit war die große jüdische Gemeinde entstanden, dann waren die Iren gekommen und noch später die Völkergruppen aus dem früheren Empire – vom indischen Subkontinent, aus der Karibik, aus Asien. »Schon vom Mittelalter an war London stets eine Stadt mit einer großen Zahl von Fremden, die sich rasch assimiliert haben. Historisch gesprochen war London genauso ein Schmelztiegel wie etwa New York.«
»Und die vielgerühmte angelsächsische Rasse…?«
»Ist ein Mythos. Die nördliche Hälfte Großbritanniens ist stärker dänisch und keltisch; und sogar für den Süden bezweifle ich, daß unsere angelsächsischen Vorfahren ein Viertel ausmachen. Wir sind ganz einfach eine Nation europäischer Einwanderer, die sich die ganze Zeit mit immer neuen Gruppen vermischt hat. Ein genetischer Strom, wenn du willst, der von einer Unzahl Nebenflüssen gespeist wird.« Das Museum hatte zu diesem Thema ein Buch herausgegeben.
»Wie würdest du einen Londoner dann definieren?« fragte Lady Penny.
»Als jemanden, der hier lebt. Wie die alte Definition eines Cockneys: jemand, der in Hörweite der Bow-Glocken geboren ist. Und ein Fremder«, fügte er schmunzelnd hinzu, »ist jeder, angelsächsisch oder nicht, der außerhalb lebt.«
Wenn er es sich so überlegte, hatte er diesen Prozeß in den großen Büros der Versicherungsgesellschaft miterlebt. In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg hatte es einen massiven Einwandererstrom aus der Karibik und vom indischen Subkontinent gegeben. In manchen Vierteln – Notting Hill Gate oberhalb von Kensington, Brixton am Südufer – hatte es Spannungen und sogar Krawalle gegeben. Doch in jüngster Zeit stellte er fest, wenn er sich mit der jungen Generation um die Zwanzig unterhielt, daß sie alle – schwarz, weiß oder asiatisch – nicht nur mit Londoner Akzent sprachen, sondern auch dieselben Sportarten trieben und dieselben Verhaltensweisen angenommen hatten, sogar denselben respektlosen Cockney-Humor wie das Londoner Volk vor dem Krieg. »Sie sind alle Londoner«, schloß er.
Es war still in dem Graben. Sarah Bull blickte auf ihre Kollegen und lächelte in sich hinein. Sie war schon bei vielen Ausgrabungen dabeigewesen, aber an dieser hatte sie besonders gern teilnehmen wollen, weil sie von Dr. John Dogget geleitet wurde. Er war Londoner durch und durch. »Mein Großvater war während des Blitzkrieges Feuerwehrmann«, hatte er ihr einmal gestanden. Und er war Kurator des Museum of London, wo sie seit kurzem arbeitete.
Sarah liebte das Museum. Es thronte auf dem Hügel von St. Paul's über einer weitläufigen Fußgängerzone, blickte auf ein großes Stück der alten römischen Stadtmauer Londons und wurde mehr und mehr eine Touristenattraktion. Es war angelegt als Spaziergang durch die Geschichte, von der prähistorischen Zeit bis zur Gegenwart. Die Kuratoren hatten komplette Szenen aufgebaut, untermalt von den entsprechenden Bild- und Geräuschkulissen: ein prähistorisches Lager, ein Raum zum siebzehnten Jahrhundert, eine ganze Straße des achtzehnten Jahrhunderts, viktorianische Läden – sogar ein Modell des alten London, das beleuchtet wurde, während man Auszüge zur Brandkatastrophe von London aus Pepys' Tagebuch hörte. Jede dieser Ausstellungen wurde mit Gegenständen der betreffenden Zeit illustriert, von Pfeilspitzen aus Feuerstein bis zum Originalkarren eines Straßenhändlers mit kompletter Beladung.
Hinter allem lag mühevolle Forschungsarbeit, wie Sarah wußte. Das hatte sie, die graduierte Archäologin, an diesen Ort gezogen. Es gab neue Funde, oft bedeutende Entdeckungen, etwa den kleinen Mithrastempel; und erst vor wenigen Jahren hatte man herausgefunden, daß die alte Guildhall tatsächlich an der Stelle stand, wo einst ein großes römisches Amphitheater gewesen war.
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