Lord Gamma
Seethas Herkunft nicht bekannt war, woher sollte er dann wissen, wo Prill sich befand? Ich nahm kein Blatt vor den Mund und teilte meine Ansicht Gamma mit.
Gennard zog eine Grimasse, schloß die Augen. »Kann man nicht etwas gegen diese Gravitation unternehmen?« klagte er. »Ich bekomme keine Luft.«
»Geschieht dir recht, Fettwanst«, zischte Seetha verstimmt.
Der Lord sah ausdruckslos zu uns herüber. »Ich bin ein Lunide, junge Frau«, erklärte er gleichmütig, »einer von dreien, die dem Rat angehörten, und das Resultat jahrhundertelangen menschlichen Lebens auf dem Mond. Die geringe Schwerkraft hatte schon bei der ersten Generation der Mondgeborenen für körperliche Veränderungen gesorgt. Sie wurden größer als Erdmenschen, ihr Körperumfang nahm zu. Die hohe kosmische Strahlung aufgrund der fehlenden Atmosphäre und die Abschirmung vor den langen und heißen Mondtagen sorgte dafür, daß die Hautpigmente von Generation zu Generation abnahmen, die Pupillen sich vergrößerten, die Iris dunkel wurde und der Haarwuchs versiegte.« Er funkelte Seetha an und hängte einen unmißverständlichen Also-halt-gefälligst-dein-Maul- Blick an seine Erklärung. Wieder an Gamma gewandt, fragte er: »Nun?«
»Wir könnten uns ins Observatorium begeben und die künstliche Schwerkraft abschalten«, schlug der Enoe vor.
Abgesehen davon, daß die rote Plattform Dinge aus sich herauswachsen lassen, wieder verschlucken und dicke Männer therapieren konnte, diente sie als Transportmittel innerhalb des Schiffes. Nachdem zwei der Enoe den markierten Bereich verlassen hatten, löste sie sich vom Boden und schwebte mit uns bis zur Hallendecke empor, um nach kurzem Flug in einer hangarartigen Öffnung im oberen Drittel der Säule zu landen. Dort glitt sie weiter über den Boden, tief in die Säulenkonstruktion hinein, um bald wieder senkrecht emporzusteigen, wie ein sich frei bewegender Lift. Der Unterschied bestand darin, daß wir uns nicht durch Schächte und Korridore bewegten, sondern die Schiffssubstanz sich wenige Meter vor uns öffnete und hinter uns wieder schloß. Ich hatte es zu diesem Zeitpunkt längst aufgegeben, mir Gedanken darüber zu machen, aus was für einem Material das Schiff bestehen mochte. Es glich einer Symbiose aus Gestein und Metall, war aber offenbar metamorph. Um nicht zu sagen: es erschien lebendig. Während unserer Fahrt durch das Innere der Säule hatte ich das Gefühl, als würden wir auf einer gewaltigen Tablette reisen, die von Schluckmuskeln befördert durch eine Speiseröhre in den Magen wanderte.
Unser Ziel war ein geräumiger, wiederum kreisrunder Raum unter einer im Zenit etwa acht Meter hohen, transparenten Kuppel. Er war vollkommen leer, was mich nicht weiter verwunderte. Sämtliche Instrumente ruhten wahrscheinlich in der Materie unter unseren Füßen. Diese Technik wäre das existentielle Aus für alle irdischen Innenarchitekten gewesen. Der Kraftfeldgenerator im Pontiac, der Schlüssel – es mußten die Enoe gewesen sein, die den Wagen frisiert hatten. Offen blieb die Frage, ob sie den Boden ihres Schiffes bei Bedarf auch aßen.
Das Observatorium wurde von dünnen, in Form geometrischer Figuren in den Boden eingelassenen Leuchtbahnen erhellt. Nach unserer Ankunft herrschte eine fast meditative Stille, einzig unterbrochen von Gennards schweren Atemzügen. Ich sah hinauf in die Schwärze des BRAS-Raums. Eine mächtige Lichtsäule stieg vom Schiff der Enoe fast senkrecht in die Höhe, wo sie ein mehr als tausend Meter über uns schwebendes Objekt eingefangen hatte: das Flugzeug. Ich konnte nachvollziehen, daß das Enoe-Raumschiff der Mondschwerkraft zu trotzen und im BRAS-Raum zu schweben vermochte, aber warum war die Maschine nicht längst in die Tiefe gestürzt?
Nachdem die Enoe die im Raum herrschende Schwerkraft der Mondgravitation angeglichen hatten, gaben sie Seetha und mir einige Minuten Zeit, uns den ungewohnten Bedingungen anzupassen. Seetha testete die Leichtigkeit des Seins mit zurückhaltenden Hopsern, während ich meinen Magen zwingen mußte, sich an ein Sechstel der gewohnten Schwerkraft zu gewöhnen. Ich atmete flach, um meinem Gehirn nicht zuviel Sauerstoff zuzuführen, und fühlte mich unwohl bei dem Gedanken, nur noch das Gewicht eines Kleinkindes zu besitzen. Ein Riese wie Gamma konnte mich in diesem Zustand einfach von den Füßen pusten …
»Was ist los?« fragte Seetha. »Ist dir schlecht?«
»Nur das Übliche«, wiegelte ich ab.
Gennard hingegen wirkte
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