Lord Stonevilles Geheimnis
nicht hätte überraschen dürfen, war sie verblüfft. »Ich soll also glauben, dass Sie diese Gewohnheit meinetwegen ablegen würden? Rein hypothetisch, meine ich.«
Die Kutsche schien plötzlich zu klein für sie beide zu sein. Er rührte sich zwar nicht von seinem Platz, doch sie fühlte sich allein von seiner Gegenwart überwältigt. »Warum nicht? Menschen ändern sich«, sagte er, und seine Augen wurden noch dunkler als sonst, während er aufmerksam ihr Gesicht betrachtete. »Ich würde Sie sehr gut behandeln. Es würde Ihnen an nichts mangeln, das schwöre ich.«
Sie zog eine Augenbraue hoch. »Lediglich an Anstand.«
»Zum Teufel mit dem Anstand!«, stieß er hervor.
»Sie haben leicht reden! Sie verlieren ja nichts. Ich hingegen würde alles verlieren.«
Er sah aus, als wollte er sie jeden Augenblick verschlingen. Sie rutschte nervös auf ihrem Sitz hin und her.
»Ich würde mich darum kümmern, dass Sie versorgt sind«, versprach er ihr eindringlich. »Dass Sie ein Dach über dem Kopf haben. Wenn Großmutter ihren verrückten Plan aufgibt, wird sie meine Geschwister wieder unterstützen, und ich kann von meinen Einkünften leben. Wir würden nicht viel brauchen – ein Cottage in Chelsea vielleicht. Sie bräuchten nur so wenig von Ihrem Erbe beisteuern, wie Sie für nötig halten würden. Und zumindest wären Sie nicht mehr an einen Dreckskerl wie Hyatt gebunden, der nicht einmal so höflich war, Sie zu benachrichtigen, als sich seine Anschrift geändert hat.«
Das tat weh. »Vielleicht konnte er es ja nicht«, sagte sie und brachte damit ihre schlimmste Befürchtung zum Ausdruck.
»Laut Freddy hat sich Hyatt persönlich bei London Maritime verabschiedet und sein Zimmer in der Pension komplett bezahlt. Das hört sich nicht so an, als wäre er einem Verbrechen zum Opfer gefallen.«
Freddy und seine verfluchte Geschwätzigkeit! Nicht auszudenken, was er noch alles ausgeplaudert hatte, als Oliver ihn in den Club gebracht hatte.
»Sie kennen Nathan nicht. Er würde mich doch nicht …«
»Ohne ein Wort verlassen? Anscheinend doch.«
Seine unverblümten Worte trafen sie wie ein Dolchstoß ins Herz. »Wissen Sie, Oliver, ich bin weder auf ihn noch auf Sie angewiesen. Sollte er tatsächlich vor der Ehe mit mir geflüchtet sein, erbe ich Papas Geld und kann damit machen, was ich will.«
»Wenn Sie es eines Tages bekommen. Aber bis Hyatt auftaucht oder für tot erklärt werden kann, sind Sie finanziell in einer beklagenswerten Lage. Es könnte Jahre dauern, bis der Nachlass geregelt ist.«
»Ich bin sicher, dass Papa entsprechende Vorkehrungen getroffen hat.«
»Ja, wie zum Beispiel die, Ihnen einen Ehemann zu kaufen.«
»Er hat mir keinen Mann gekauft!«, brauste Maria auf, dann fügte sie im Flüsterton hinzu: »So etwas hätte er niemals getan.«
Der Schmerz in ihrer Stimme brachte Oliver fast um den Verstand. Mit glühendem Blick beugte er sich zu ihr vor. »Selbst wenn er Vorkehrungen getroffen haben sollte und Sie das Geld schnell genug bekommen, um Ihren Lebensunterhalt davon bestreiten zu können, was hätten Sie dann gewonnen außer einem Leben als keusche, ehrbare Jungfer?«
»Ich könnte doch heiraten«, wendete sie ein.
»Und Sie würden nie wissen, ob die Männer, die Ihnen den Hof machen, Sie um Ihrer selbst willen begehren oder wegen Ihres Geldes.«
»Das ist auch nicht schlimmer, als nur wegen meines Körpers begehrt zu werden.«
»Es ist nicht nur Ihr Körper, den ich …« Oliver biss sich auf die Lippen. »Sie machen sich keine Vorstellung davon, wie schrecklich es ist, eine leidenschaftslose Ehe zu führen. Meine Eltern haben so gelebt. Das einzige Gefühl in ihrer Ehe war Verbitterung. Außer ihren Streitereien verband sie gar nichts.«
Während er Maria mit seinem Blick regelrecht hypnotisierte, zog er ihr langsam die Handschuhe aus. »Und nun sehe ich, wie Sie blindlings auf eine Ehe mit einem Kerl zusteuern, der Sie zusammen mit seinen anderen Besitztümern auf ein Regal stellen wird, um Sie nur dann herunterzuholen, wenn er gerade Verwendung für Sie hat.« Er warf ihre Handschuhe auf den Sitz, ergriff ihre Hände und strich mit den Daumen über ihre Handrücken. »Falls Sie ihn überhaupt wiedersehen.«
Seine Worte trafen den Kern ihrer Befürchtungen in Bezug auf Nathan: dass er sie nur begehrte, weil sie seinen Interessen dienlich war. Das wollte sie nicht hören. Und sie wollte Oliver nicht so nah
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