Lord Stonevilles Geheimnis
auf dem Weg zur Treppe.
»Wir hätten ihn nicht beauftragen müssen.«
»Doch! Nach allem, was man hört, ist er der Beste in seinem Fach.«
Maria klammerte sich an seinen Arm, als sie die Treppe hinuntergingen. »Aber er hat so gemeine Dinge über Sie gesagt! Ich weiß nicht, wie viel Sie gehört haben …«
»Genug«, sagte er und wendete seinen Blick ab, um ihr nicht in die Augen sehen zu müssen. Dass sie ihn gegenüber Pinter verteidigt hatte, hieß nicht, dass sie ihre Meinung nicht noch einmal ändern konnte. Er war es zwar gewohnt, missbilligende Blicke mit einem Achselzucken abzutun, aber wenn sie ihn so ansehen würde, könnte er es nicht ertragen. Nicht nach ihren freundlichen Worten.
»Das mit Ihren Eltern tut mir leid«, sagte sie leise.
Das Mitgefühl in ihrer Stimme kostete ihn fast seine Selbstbeherrschung. »Warum?« Er gab sich völlig ungerührt, aber es verlangte ihm seine gesamte Willenskraft ab. »Sie hatten doch nichts damit zu tun.«
»Sie natürlich auch nicht! Ich hoffe, Sie denken nicht, ich würde seinen Andeutungen Glauben schenken.«
»Glauben Sie, was Sie wollen. Es spielt keine Rolle«, log er.
Inzwischen waren sie am Ausgang angekommen. Als Oliver ihr die Tür aufhielt, blieb sie stehen, suchte seinen Blick und zwang ihn, ihr in die Augen zu sehen. »Es spielt sehr wohl eine Rolle. Er hätte all diese Dinge nicht sagen dürfen.«
Er sah sie wie gebannt an. Er konnte einfach nicht wegschauen. In ihren Augen lag so viel Mitgefühl, dass er darin ertrinken wollte.
Im nächsten Moment wäre er am liebsten davongelaufen.
Ihr Wohlwollen würde nicht von Dauer sein. Wie sollte es auch?
Er riss seinen Blick von ihr los und führte sie die Stufen zur Straße hinunter. »Vertrauen Sie mir, Maria, er hätte noch sehr viel mehr andeuten können. Er hätte Ihnen die ganze Geschichte erzählen können, die seinerzeit verbreitet wurde: dass ich erst meinen Vater erschossen habe, um an das Erbe zu gelangen, und dann meine Mutter, als sie versuchte, mir die Waffe zu entreißen.«
Maria drückte beschwichtigend seinen Arm, doch wenn sie schon so töricht war, ihn ständig zu verteidigen, wollte er ihr auch alles erzählen, was über ihn und seine Familie gesagt wurde. »Außerdem gibt es noch das Gerücht, dass meine Mutter meinen Vater erschossen hat, weil er ein Verhältnis mit einer anderen Frau hatte. Die andere Variante ist, dass Großmutter auf Bitten meiner Mutter einen Killer angeheuert hat, der meinen Vater töten sollte, und dass dabei etwas schiefgegangen ist. Diese verschiedenen Theorien kursieren jetzt schon seit neunzehn Jahren unter den Leuten.«
»Das ist ja ungeheuerlich!«, empörte sie sich.
»Es liegt in der Natur des Menschen«, entgegnete er resigniert. »Wenn die Wahrheit zu langweilig ist, erfinden die Leute spannendere Geschichten. Niemand weiß, was wirklich an jenem Abend passiert ist, auch ich nicht. Laut meiner Großmutter hielt meine Mutter meinen Vater für einen Einbrecher und erschoss ihn, und als sie merkte, was sie getan hatte, hat sie sich in ihrem Kummer eine Kugel in den Kopf gejagt.«
»Also war der Tod der beiden ein tragischer Unfall.«
»Ja.«
Es war nicht gelogen. Das dachte seine Großmutter wirklich. Aber Oliver wusste nur zu gut, dass auch diese Version der Geschichte nicht der Wahrheit entsprach. Doch die Wahrheit konnte er Maria einfach nicht sagen: Er hatte zwar den Finger nicht am Abzug gehabt, aber seine Eltern waren seinetwegen tot. Daran konnte nichts und niemand etwas ändern, auch nicht das Mitgefühl einer jungen Amerikanerin mit weichem Herz.
Die Kutsche fuhr vor, und der Diener klappte die Trittstufe herunter. Doch als Oliver Maria beim Einsteigen half, fragte sie unvermittelt: »Wo ist Freddy?«
Gott, ihren Vetter hatte er völlig vergessen! »Ich habe ihn in meinen Club gleich hier in der Nähe gebracht«, erklärte er und stieg ebenfalls ein. »Ich wollte nicht, dass er bei Pinter alles ausplaudert, und er sagte, er lege ohnehin keinen Wert darauf, mit uns einkaufen zu gehen.« Das stimmte auch. Er verschwieg lediglich, dass er sich ihres Vetters entledigt hatte, weil er sie ein Weilchen für sich allein haben wollte.
Schon als er Freddy im Club abgesetzt hatte, war ihm klar gewesen, dass dies Wahnsinn war. Sie war ihm schon viel zu sehr unter die Haut gegangen, und es würde nur noch schlimmer werden, wenn er Zeit mit ihr allein verbrachte. In der
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