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Loreley

Titel: Loreley Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Schlimmste von allem war, und der braunschwarze Schlamm bedeckte sie von oben bis unten.
    Als sie sich wieder aufrappelte, war sie schmutzig vom Scheitel bis zur Sohle, stank erbärmlich nach au f geweichten Pferdeäpfeln und fühlte sich erniedrigt wie selten zuvor in ihrem Leben. Sie drehte sich um, triefend vor dickflüssigem Morast, und schaute zurück mit einem Blick, der töten sollte.
    Der Lange Jammrich stand im Regen und hielt sich den Bauch vor Lachen. Sein Beutel und die Sackpfeife lagen im Schatten einer mannshohen umgestürzten Bau m wurzel, die beides wie eine Höhlendecke vor der Nässe schützte.
    Der Spielmann hatte die Augen zusammengekniffen, krümmte sich vornüber und kreischte vor Lachen wie ein exotischer Vogel, während sich die Freudentränen auf seinen Wangen mit dem Regen vermischten. »Du solltest dich sehen«, brachte er st o ckend hervor.
    Genug ist genug, dachte Ailis empört. Andere Welt hin oder her, aber das hier hatte sie nicht nötig. Sich von einer kunterbunten Vogelscheuche auslachen zu lassen war keineswegs, was sie sich von dieser Begegnung e r hofft hatte. Sie hatte damit gerechnet, dass er sie a n schreien, vielleicht gar vor Wut auf sie losgehen würde; sich aber von ihm lächerlich machen zu lassen, das war zu viel. Wahrscheinlich hatte sie der ganzen Sache ohn e hin zu viel Wert beigemessen. Musik s pielen konnten viele, manch einer sicher noch besser als dieser Witz von einem Kerl. Mit ihrem scharfen Gehör würde es ihr schon gelingen, auch im Spiel anderer das wiederzufi n den, was sie in Jammrichs Mel o die entdeckt hatte.
    Mit erhobenem Haupt und ohne ein Wort drängte sie sich an dem Spielmann vorbei. Voller Genugtuung b e merkte sie, dass die Berührung eine dicke Schlammspur auf seiner Kleidung hinterließ. Sein Lachen verebbte allmählich, aber sie beachtete ihn nicht weiter.
    Sie hatte bereits ein Dutzend Schritte auf ihrem Weg Richtung Burg zurückgelegt, als der Spielmann ihr mit heiserer Stimme nachrief. »Verrätst du mir wenigstens, was du von mir wolltest?«
    »Du musst dich irren, Possenreißer«, gab sie zurück, ohne sich umzudrehen, »von dir wollte ich gewiss nichts.«
    »Dann nimmst du also häufiger ein Schlammbad hier im Wald?«
    »Es gehört zu meiner wöchentlichen Leibespflege, a l lerdings.« Sie ging noch ein wenig weiter, dann dämme r te ihr, dass es in seinen Augen aussehen musste, als liefe sie vor ihm davon. Mit einem scharfen Durchatmen blieb sie stehen und drehte sich um.
    »Ich will mit dir reden«, sagte sie fest. »Über die M u sik.«
    Jammrich verzog das regennasse Gesicht. »Das wollte auch der Graf. Suchst du j e manden, der ein paar hübsche Reime auf deine Tapferkeit verfasst?«
    Ailis schüttelte heftig den Kopf. Tropfen flogen von ihrem Stoppelhaar in alle Ric h tungen. »Ich meine nicht solche Musik.« Und in Ermangelung einer besseren B e schre i bung sagte sie: »Es geht mir um die Musik hinter der Musik. Die, die nicht jeder hören kann.«
    Sie fürchtete, dass das alles für den Spielmann wie schreckliches Gestammel klingen musste. Um so übe r raschter war sie, als aller Hohn aus seinen Zügen ve r schwand und an seine Stelle erst Zweifel, dann tiefer Ernst traten. Der Lange Jammrich holte weit mit seinem triefnassen Arm aus und deutete galant auf die trockene Wurzelhöhle. »Tritt ein«, sagte er, »und sei mein Gast.«

2. Kapitel
     
    Du hast sie also gehört«, stellte der Lange Jammrich fest. »Zumindest behauptest du das.«
    »Mehr als das«, sagte Ailis. »Ich habe gesehen, wie sich alles verändert hat. Da war etwas, irgendetwas, als hätte ich durch die Menschen und Mauern hindurc h schauen können.«
    Der Spielmann schmunzelte. Aus der Nähe sah er viel jünger aus, Ailis schätzte ihn auf weniger als dreißig Ja h re. Sein schmales, ausgezehrtes Gesicht gab wenig Au f schluss über sein wahres Alter, es waren vielmehr seine Augen, die seine Jugend verrieten. Sie wirkten aufg e weckt und klug, schauten geschwind hierhin und dorthin und hatten die Farbe von Met, ein dunkles Gelb, fast go l den. Ailis hatte nie zuvor solche Augen gesehen. G e meinsam mit seinen weißen, ebenmäßigen Zähnen gaben sie ihm etwas Überirdisches, das in krassem Gegensatz zu seinen eingefallenen Zügen stand. Sie saßen unter dem verschlungenen Dach der Baumwurzel enger beiei n ander, als Ailis lieb war, doch mehr Platz blieb ihnen nicht. Ihr Blick wurde immer wieder vom ledr i gen Balg der Sackpfeife angezogen, ihr war fast, als

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