Loreley
pulsiere er unmerklich, wie ein lebendes, atmendes Organ, das aus einem riesenhaften Leib herausgeschnitten worden war. Ob sie ihm mit etwas Übung ebensolche Klänge entl o cken könnte, wie Jammrich es tat?
»Ist dir so etwas schon einmal passiert?«, fragte der Spielmann.
Ailis schüttelte den Kopf. »Heute zum ersten Mal.«
»Vielleicht hast du dich getäuscht. Hast dir alles nur eingebildet.«
Sie legte die Stirn in Falten und musterte ihn prüfend. »Wir säßen nicht beieina n der, wenn es so wäre.«
Der Lange Jammrich lehnte sich zurück und legte e i nen Arm über den Sack mit seiner Ausbeute vom Bur g hof. Er grinste, was erneut einen verblüffenden Gege n satz in sein Gesicht zauberte: Seine Zähne blitzten wie weißglühender Stahl, während sich die Lederhaut seiner Wangen wie der Schädel einer zischenden Eidechse ve r zog. Ailis fürchtete sich nicht wirklich vor ihm, aber ihr war auch nicht wohl in seiner Nähe.
»Kein Mensch kann die geheimen Melodien hören, wenn er es nicht gelernt hat«, sagte der Lange Jammrich. »Und nun, Mädchen, rück raus mit der Sprache: Wer hat dir davon erzählt?«
Ailis spannte sich. Jammrich glaubte ihr kein Wort. Er dachte wirklich, sie hätte jemanden darüber reden hören. Sie war es gewohnt, dass Erwachsene sie nicht ernst nahmen, aber aus irgendeinem Grund hatte sie ang e nommen, Jammrich wäre anders. Er schien ziemlich ve r rückt zu sein, und das Gleiche wurde auch von ihr b e hauptet; sie hatte gehofft, dass sie das verbinden würde. Eine trügerische Hoffnung.
»Niemand hat mir davon erzählt!«, fuhr sie ihn empört an. »Und wenn ich es mir recht überlege, brauche ich keinen dahergelaufenen Spielmann, um mir Dinge erkl ä ren zu lassen, die ich auch von anderen erfahren kann.« Mit diesen Worten stand sie auf, in der heimlichen Hof f nung, dass er sie zurückrufen würde.
»Das bezweifle ich«, sagte er, ohne sie aufzuhalten. »Nur Spielleute kennen die g e heime Melodie, und auch unter ihnen nur wenige. Jene, die hören können.«
Ailis verfluchte sich selbst und sank zurück in den Schutz der Wurzel. »Ich kann hören, besser als jeder a n dere. Man sagt, ich habe die besten Ohren im ganzen Köni g reich.« Das war maßlos übertrieben, aber im Kern zumindest kam es der Wahrheit nahe.
Jammrich grinste schon wieder – dann beugte er sich blitzschnell zu Ailis herüber und kreischte ihr völlig u n vermittelt einen schrillen Laut ins Ohr. Vor Schreck schrie Ailis auf, taumelte wie betäubt auf die Füße und sprang hinaus in den Regen.
»Was soll das?«, brüllte sie ihn aufgebracht an. »Hast du den Verstand verloren?« Sturzbäche vom Himmel klatschten in ihr Gesicht, Tropfen verschleierten ihren Blick, doch sie kümmerte sich nicht darum. Jammrich war wahnsinnig, daran hatte sie jetzt gar keinen Zweifel mehr. Sie würde sich hüten, noch einmal so nah an ihn heranzugehen. Lieber wollte sie sich im Regen den Tod holen.
Der Spielmann schlug beide Fäuste vor den Mund und kicherte wie ein kleines Kind, dem ein besonders geri s sener Streich gelungen war. »Du kannst hören, in der Tat«, stellte er schließlich fest, und Ailis hatte mehr und mehr den Eindruck, dass er sich über sie lustig machte. »Aber hörst du auch die Dinge, die hinter den Liedern und Klängen liegen? Jeder kann das von sich behaupten. Aber, sag mir, hörst du sie wir k lich?«
Ailis’ Gedanken überschlugen sich. War das eine List? Stellte Jammrich sie auf die Probe? Sie versuchte ve r zweifelt, sich den hohen Schrei, den er ausgestoßen hatte, noch einmal ins Gedächtnis zu rufen. Lag auch dahinter eine verborgene Botschaft, so wie hinter seiner Melodie im Burghof? Doch so sehr sie auch in ihrer Erinnerung forschte, da war nichts außer einem Kreischen, laut und schrill und ziemlich verrückt.
»War da etwas in dem Schrei?«, fragte sie schließlich als Eingeständnis ihrer Ni e derlage. »Falls ja, habe ich nichts gehört.«
Jammrich lachte laut auf. »Da war nichts. Nur ein Schrei. Keine Geheimnisse, ke i ne Rätsel. Ich muss dich enttäuschen.«
Sie starrte ihn finster an. »Du wolltest mich reinlegen! Du wolltest, dass ich lüge!«
Der Lange Jammrich knetete sein Kinn mit Daumen und Zeigefinger. »Nehmen wir einmal an, du hättest im Burghof wirklich mehr gehört als alle anderen. Was e r wartest du jetzt von mir? Was soll ich tun?«
»Also hatte ich doch recht!«
»Manchmal ist es besser, wenn man unrecht hat. Das kann ein guter Schutz sein.«
»Wovor?«,
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