Loreley
selnden Regen hinweg nicht verstehen konnte. Sie scha u te sich zu Erland um, der immer noch all seine Aufmer k samkeit auf die Bearbeitung der Schwertklinge richtete; noch immer hatte er keine neuen Aufgaben für sein Lehrmädchen. Das Werkzeug hatte sie am Morgen g e putzt und gewissenhaft für ihn zurechtgelegt. Es war g e nug Kohle im Feuer und falls er noch mehr benötigte, so stand ein off e ner Sack in Reichweite seiner riesigen Pranken. Erst gestern Abend hatte Ailis die g anze Wer k statt ausgefegt und sogar die Scharniere am Eingang g e fettet. Die Münzen waren gezählt, ihr Wert in eine P a pierrolle eingetragen. So wie es aussah, war Ailis im A u genblick tatsächlich überflüssig.
Sie lief hinaus in den Regen und überquerte den Hof. Sogar das Laubdach der Li n de war in kürzester Zeit von dem Regen durchdrungen worden und bot keinen Schutz mehr vor der Nässe. Die Näherinnen, die sich eben noch unter dem Baum versammelt hatten, waren längst in e i nem der Häuser verschwunden.
Ailis erreichte das Tor und eilte an den Wachtposten vorüber. Die Männer blickten ihr misstrauisch nach; nicht, weil es sie wunderte, dass das Mädchen im Regen die Burg verließ – sie waren weit Wunderlicheres von ihr gewohnt –, sondern vielmehr, weil jedermann Ailis mis s traute. Seit ihrer Wandlung von der aufgeweckten Spie l gefährtin des Grafenmündels zur mürrischen, schwei g samen Gesellin wurde sie mit so manchem zweifelnden Blick bedacht.
Dennoch ließen die Wachen sie ohne Anruf ziehen. Im Grunde war Ailis ihnen gleichgültig. Falls sie mit Fieber und Schnupfen aus dem Regen heimkehrte, nun, dann trug sie eben selbst die Schuld daran.
Eine halbe Bogenschussweite vom Tor entfernt gabe l te sich der Weg. Der Hauptpfad führte entlang einer B ö schung zum Dorf am Ufer hinab, während eine gra s überwucherte Abzweigung nach wenigen Schritten ins Dickicht des Waldes eintauchte. Ailis hatte von weitem b e obachtet, dass der Lange Jammrich den Weg zum Wald g e wählt hatte. Mittlerweile war er im Unterholz nicht mehr zu sehen.
Sie zögerte nicht, ihm zu folgen. Mochten die Wächter am Tor von ihr denken, was sie wollten, darum scherte sie sich schon lange nicht mehr. Irgendetwas in ihrem Inn e ren, vielleicht eine geheime Stimme, vielleicht nur ihr Gefühl, sagte ihr, dass es wichtig war, dem Spielmann nachzugehen.
Der Regen erfüllte den Wald mit ohrenbetäubendem Prasseln und Rauschen, als kämpfte sich ein Schwarm Fledermäuse durch das dunkle Blätterdach. Ailis war völlig durchnässt, und allmählich begann sie zu frieren. Dennoch war in ihr eine Wärme, die alle äußeren Una n nehmlichkeiten vertrieb: Die Aufregung schützte sie be s ser vor der Kälte als jeder Fellumhang. Sie wusste selbst nicht, was sie erreichen wollte, indem sie dem Spielmann folgte. Seiner Miene und den Umständen seines A b schieds nach würde er gewiss wenig Geduld für ein Mädchen aufbringen, das hinter ihm herlief, als hinge sein Leben davon ab.
Doch mit jedem Zweifel, der ihr während des Weges durch den Wald kam, stieg auch ein Teil der Erinnerung an Jammrichs geheime Melodie in ihr auf, an jenen Blick auf die wahre Natur der Welt, darauf, dass alles, was sie Zuhause nannte, nichts war als eine Schwelle zu einer anderen, unbekannten Wirklichkeit. Sie fragte sich, ob sie ve r rückt geworden oder zumindest auf dem besten Wege dorthin war, denn augenschei n lich hatte niemand sonst im Burghof gesehen, was sie gesehen hatte; doch letztlich fasste sie so viel Vertrauen zu sich selbst, dass sie ihren Empfindungen Glauben schenkte. Da war etwas gewesen, und nur der Lange Jammrich konnte es ihr e r klären.
Keuchend folgte sie dem Pfad, der von den Hufen der Jägerpferde aufgewühlt war und sich im Regen in eine einzige Schlammbahn verwandelte. Immer wieder rutsc h te sie aus und konnte sich nur mit Mühe auf den Beinen halten, einmal gar bewahrte sie nur der blit z schnelle Griff nach einem tief hängenden Zweig davor, das Gleichgewicht zu verlieren.
Plötzlich schoss etwas hinter einem Baumstamm he r vor, g leich neben dem Pfad. Ailis bemerkte es, konnte aber nicht mehr rechtzeitig anhalten. Es war ein Bein, vorgestreckt zu dem einzigen Zweck, sie zu Fall zu bri n gen. Sie verhakte sich mit dem rec h ten Fuß darin, wurde von ihrem eigenen Schwung aus dem Gleichgewicht g e rissen, taumelte zwei Schritt weit nach vorne und sank der Länge nach in den aufgeweichten Morast. Sie biss sich auf die Zunge, was vielleicht das
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