Loreley
verbergen.«
»Und was ist mit einem Spielmann?«, fragte Ailis bi t ter. »Ist er immer nur das, was er zu sein vorgibt?«
»Vielleicht nicht«, meinte Jammrich mit schiefem L ä cheln. Er trat auf sie zu und tätschelte ihre regennasse Wange. »Gib auf dich acht, Mädchen. Hüte dich vor dem Lurlinberg und seinem Echo. Besonders vor dem Echo. Und ganz gleich, wie sehr man dich locken mag, halte dich fern von Faerie.«
»Was ist das – Faerie?«
»Wenn du es nicht weißt, um so besser. Vergiss am besten, je davon gehört zu h a ben.«
»Jammrich!« Sie hielt ihn an der Schulter zurück, als er sich abwenden und mit seinen Schätzen und der Sac k pfeife im Wald verschwinden wollte. »Nimm mich mit! Wohin du auch immer gehen magst, lass mich mit dir gehen.«
Sie hatte erwartet, dass er sie auslachen, sie verspotten würde. Doch stattdessen sagte er mit großem Ernst: »Das kann ich nicht tun, selbst dann nicht, wenn du wirklich eine derjenigen bist, die hören können. Es ist zu gefäh r lich.«
»Unsinn! Niemand wird mir eine Träne nachweinen, niemand wird nach mir s u chen. Man würde uns nicht verfolgen.« Nicht einmal Erland, dachte sie. Er war viel zu sehr mit all den wunderlichen Sorgen beschäftigt, die ihm im Kopf umhergingen, Tag für Tag, Jahr für Jahr.
»Ich fürchte keine Verfolger, Mädchen.« Jammrich befestigte den prallen Beutel mit Hilfe eines Schulterri e mens auf s einem Rücken, dann nahm er die Sackpfeife in beide Hände. »Darum geht es nicht. Es gibt andere Gründe.«
»Feigling!«, brüllte sie ihn an. Plötzlich trieb ihr die Verzweiflung Tränen in die Augen. Sie war noch nie so nah daran gewesen, der Burg und ihrer Vergangenheit endgültig den Rücken zu kehren. Sie wollte fortgehen, wollte von Jammrich lernen, wollte –
»Du bringst Unglück«, sagte er. »Ich kann es spüren. Das, was du erzählt hast, bestätigt es nur. Du bringst e i nem Mann wie mir Unglück. Jedem Mann. Und jeder Frau.«
Damit drehte er sich endgültig um und ging davon, den schlammigen Pfad entlang, tiefer in den Wald. Ailis folgte ihm einige Schritte, bis er mit einem Mal begann, ein Lied auf seiner Sackpfeife zu spielen, so fremdartig und wunderbar, dass Ailis einen Augenblick brauchte, ehe sie die Wahrheit begriff. Es war eine Fortführung jener Melodie, die sie im Burghof unter dem Mantel se i ner Tanzlieder entdeckt hatte. Mit dem Unterschied, dass er sie jetzt klar und deutlich spielte. Was immer es war, das er damit freisetzte oder herbeirief, er tat es unverho h len und mit voller Absicht. So, als hätte er es plötzlich sehr eilig. Als gäbe es etwas, dem er mit Hilfe der Musik entkommen wollte.
Er verschwand jenseits der Regenvorhänge, und erneut begann sich vor Ailis’ A u gen das Gefüge der Welt zu verziehen und zu drehen, wie ein nasses Wams, aus dem man die Feuchtigkeit herauswringt. Nur dass hier nicht Wasser entwich, sondern der Lug und Trug dessen, was sie bisher für die Wirklichkeit gehalten hatte. Was z u rückblieb, war die gleiche farblose Hülle wie im Bur g hof, nur um ein Vielfaches schaler, öder, hässlicher. Und zugleich spürte sie, dass sich irgendwo etwas öffnete, wie ein Tor oder ein Fenster, und etwas streifte sie wie ein Windstoß, floss an ihr vorüber, b ündelte sich in ihrem Rücken und drückte sie nach vorn. Etwas hatte sie g e packt und zog sie in die Richtung, in der Jammrich ve r schwunden war, und Ailis vergaß vor Schreck, dass es doch genau das gewesen war, was sie gewollt hatte. Sie stemmte sich mit den Füßen dagegen, griff mit den Fi n gern nach leerer Luft, schlug um sich, öffnete den Mund, um zu schreien –
Und abermals verstummte die Melodie. Die unsichtb a re Faust um ihren Körper verdampfte. Ailis stolperte und fiel zum zweiten Mal in den Schlamm. Sie fing sich mit den Händen ab, schaute dem Langen Jammrich nach und sah nichts als Regen und Wald – die Welt, wie Ailis sie immer gekannt hatte.
Der Spielmann war fort, und nichts anderes hatte sie erwartet.
Noch am gleichen Tag stahl Ailis eine Münze aus E r lands Kiste. Sie schämte sich dafür, und als sie den D e ckel lautlos wieder verriegelte, war ihr, als hätte sie d a mit auch den Rückweg in ihr altes Leben verschlossen. Sie betrog den einzigen Menschen, der gut zu ihr war. Sie verabscheute sich dafür, aber sie wusste auch, dass es die einzige Möglichkeit war, ihr Ziel zu erreichen. Wenn sie heute nicht tat, was sie sich vorg e nommen hatte, dann würde sie es niemals
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