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Loreley

Titel: Loreley Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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fragte sie argwöhnisch und um ein kühles Lächeln bemüht. »Vor dir?«
    »Ach was!« Er winkte ab und holte weit mit beiden Händen aus, als wollte er Ailis umarmen. »Vor dem, was jenseits unserer Wirklichkeit liegt. Vor Dingen, die den Menschen unbegreiflich sind. Vor Wesen, die anders sind als wir. Vor Reichen, die nicht für unsereins g e schaffen wurden.« Er zögerte und runzelte die Stirn. »Klingt das eindrucksvoll genug? Nicht wirklich, fürchte ich.«
    Ailis erinnerte sich an den Vorfall auf dem Lurlinberg und schüttelte unmerklich den Kopf. »Glaube ja nicht, dass du mich so einfach erstaunen kannst, Spielmann. Dazu gehört mehr als ein paar Ammenmärchen. Mein Teil an Unbegreiflichem habe ich langst erlebt.«
    »Erzähl mir davon«, verlangte er.
    Bis heute hatte Ailis sich an den Schwur, den der Graf ihr abgefordert hatte, geha l ten. Nicht einmal Fee wusste, was damals geschehen war. Ailis hatte ihr misstraut – immerhin war der Graf Fees Oheim –, und ihr Misstrauen war der erste Riss in ihrer Freundschaft gewesen, das erste Anzeichen der Kluft, die heute zwischen ihnen lag. Längst taten Ailis ihre Zweifel an Fees Verschwiegenheit leid; sie hatte ihr Unrecht getan, davon war sie insgeheim überzeugt, aber es war zu spät, um einen so schweren Fehler wieder gutzumachen.
    Sie betrachtete den Spielmann noch einmal von oben bis unten, seine dürren, spinnenhaften Glieder, sein G e sicht eines Hungerleiders, das die Augen und den Mund eines Prinzen barg. Sie wurde nicht schlau aus ihm und es wäre töricht gewesen, ihm ein Vertrauen zu schenken, das sie ihrer engsten Freundin verweigert hatte.
    Trotzdem war da etwas in der Art, wie er sprach, in seinem scheinbaren Irrsinn, der nur der Schlüssel zu e t was anderem zu sein schien, einem Verständnis für Di n ge, die niemand begreifen konnte, der nicht irre war. Sie fühlte eine eigenartige Verwand t schaft zu ihm und seiner unsteten Art, zu seinem verrückten Blick und der dreisten Überheblichkeit in seinen Worten.
    Und dann hörte sie auf, darüber nachzudenken und tat einfach, was ihr Gefühl ihr gebot: Sie erzählte ihm alles.
    Im Wald, im Regen, offenbarte sie einem vollkommen Fremden ihr größtes Geheimnis, und sie verschwieg ke i ne Einzelheit. Sie berichtete von der Jagd nach dem Mädchen und davon, dass es in dem alten Brunne n schacht auf der Felsspitze des Lu r linberges eingekerkert worden war, davon, dass der Graf und seine Männer, ja sogar ihr eigener Vater, ihr mit Strafe gedroht hatten, wenn sie auch nur ein einziges Wort da r über verlieren würde, davon, dass ihr ganzes Leben sich nach diesem Ereignis in einen Scherbenha u fen verwandelt hatte.
    Der Lange Jammrich hörte schweigend und aufmer k sam zu, gelegentlich hob er e i ne Braue, rümpfte die Nase oder ließ seine Mundwinkel zucken, doch ansonsten sa g te er nichts. So lange, bis Ailis ihre Schilderung beendet hatte und sich erschöpft neben ihm unter die Wurzel fa l len ließ. Dann erst wandte er langsam den Kopf und b e trachtete sie lange von der Seite, schien ihr Profil zu st u dieren wie eine unbekannte, wundersame Pflanze.
    »Das ist seltsam«, sagte er leise.
    Sie erwiderte seinen Blick, plötzlich zu müde, um wirklich empört zu sein. »Das ist alles, was dir dazu ei n fällt?«
    »Nein, nein. Ich meine, es ist seltsam, dass sie dich nicht getötet haben.«
    »Mein Vater war bei ihnen«, sagte sie ohne Überze u gung.
    »Und wenn du die Tochter des Grafen persönlich w ä rest – er hätte dich töten müssen«, sagte Jammrich b e harrlich. »Dich und alle Männer, die bei ihm waren.«
    Ailis starrte ihn verwundert an. »Was weißt du über diese Sache, Spielmann?«
    Der Lange Jammrich atmete tief durch, dann erhob er sich. Ailis blickte fassungslos zu ihm auf. »Was tust du?«, fragte sie entgeistert.
    »Ich ziehe weiter«, sagte er. »Was sonst? Wenn die Männer des Grafen mich hier finden, werden sie mich erschlagen.«
    »Aber du weißt etwas!«, rief sie wütend und sprang gleichfalls auf die Füße. »Du musst mir die Wahrheit sagen!«
    »Mädchen«, sagte er, und Ailis fiel auf, dass er sie nicht einmal nach ihrem Namen gefragt hatte. »Es mag nicht sonderlich einfallsreich sein, aber glaub mir das eine: Viele Dinge sind nicht das, was sie scheinen. Ein Graf mag wie ein Graf aussehen, aber vielleicht ist er viel mehr als das. Ein kleines Mädchen mag wie ein Kind erscheinen, aber ist es das wirklich? Und ein Brunnen – nun, darin mag sich vielerlei

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