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Loreley

Titel: Loreley Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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befand. Alle standen offen. Ein kalter Luftzug pfiff um die Maue r winkel, die Fenster aller drei Zimmer mussten geöffnet sein. In welchem Raum war Fee?
    »Ich bin hier«, sagte eine Stimme. Ailis glaubte, sie käme aus der hinteren Ka m mer. Durch den Ausschnitt der Tür sah sie ein Stück von einem reich verzierten Bett. Das Schlafgemach.
    Der Gang schien sich vor ihr in die Länge zu ziehen, zu schwanken und sich zu biegen wie ein Ort aus einem Albtraum. Sie passierte die erste Tür, schaute nicht hi n ein. Ihr Blick war fest auf den Durchgang am Ende des Flurs gerichtet.
    Sie kam an die zweite Tür. Die Schwertspitze zitterte leicht. Das ist keine Angst, log sie in Gedanken, nur Au f regung. Dem Wiedersehen zweier alter Freundinnen a n gemessen. Fast hätte sie darüber gelacht.
    Sie hatte den zweiten Türrahmen noch nicht passiert, als etwas ihre Wange berührte. Ganz zart nur, unschu l dig. Kein Angriff.
    Ailis wirbelte herum, schaute in das zweite Zimmer.
    Fee stand lächelnd in der Mitte der kleinen Kammer, hinter sich das geöffnete Fen s ter. Sie trug ein langes, weißes Gewand. Es war aus federleichten Seidenbahnen gewirkt, am Oberkörper hauteng, aber unterhalb der Hü f ten weit auseinander fließend. Sie hatte Ailis beide Hä n de entgegengestreckt. Die Ärmel des Kleides hatten mehr als die doppelte Länge ihrer Arme, der Luftstrom wirbe l te sie Ailis entgegen. Einer von ihnen hatte ihr Gesicht gestreift. Auch die losen Seidenbahnen am Saum des Kleides tanzten geisterhaft auf den Winden, wie Ranken einer Wasserpflanze.
    »Das Kleid habe ich bei meiner Vermählung getr a gen«, sagte Fee leise. Ihr Lächeln war maskenhaft starr. Inmitten der wirbelnden Seide schien es das Einzige zu sein, das nicht von rasender, taumelnder Bewegung e r füllt war.
    Ailis hatte sich während des langen einsamen Ritts vom Rhein hierher allerlei Sätze zurechtgelegt, mit denen sie Fee hatte entgegentreten wollen. Jetzt aber schien ihr keiner mehr angemessen.
    »Freundinnen«, wisperte Fee. Nur das eine Wort. Es klang nachdenklich. »Und du warst nicht einmal bei meiner Hochzeit.«
    Die Worte waren so klar, so einfach, und trotzdem musste Ailis einen Augenblick lang überlegen, bis sie sie wirklich verstand. Machte Fee ihr tatsächlich einen Vo r wurf, weil sie nicht zu ihrer Vermählungsfeier gereist war?
    Sie will mich nur verunsichern, dachte sie. Immerhin – das war ihr gelungen.
    »Warum bist du vor mir davongelaufen, als du mit deinen Freunden hier warst?«, fragte Fee.
    Ailis versuchte, das Lächeln zu erwidern, aber es g e lang i hr nicht. »Darauf willst du nicht wirklich eine An t wort, oder?«
    Sollte sie das Schwert senken? Die Klinge zitterte noch immer, sie verriet ihre A n spannung. Aber es half, sich hinter der Waffe zu verstecken. Sie gab ihr das G e fühl, dass da irgendetwas Schützendes zwischen ihr und Fee war, nicht nur flatternde Seide und die Stille des Turms. Wie leicht es war, sich selbst zu betrügen.
    »Wen kümmert schon, was gewesen ist? Du bist z u rückgekommen.« Fee legte eine Trauer in ihre Stimme, die nicht zu dem Lächeln auf ihren Zügen passte. Das Echo kannte zwar die Macht menschlicher Regungen, aber es scheiterte an ihrem Zusammenspiel. Etwas Äh n liches war Ailis schon an dem Mädchen im Schacht au f gefallen.
    »Kannst du mir sagen, warum ich hier bin?«, fragte Ailis.
    »Wenn du selbst es nicht weißt …«
    »Was glaubst du denn, weshalb ich hergekommen bin?«
    »Freundinnen besuchen sich gegenseitig«, sagte Fee, und das schreckliche Lächeln wurde noch breiter, noch falscher. »Und manchmal töten sie einander.«
    »Ist es das, was du willst? Mich töten?« Ailis war e r schöpft. Selbst jetzt spürte sie noch, wie schwach sie war. Ihre Geduld war am Ende. Sie hatte gehofft, sie würde wissen, was zu tun war, wenn der Moment kam, in dem sie Fee gegenüberstand. Doch in Wahrheit wusste sie gar nichts.
    »Dich töten!«, wiederholte Fee und lachte leise. »Als ob es mir je um deinen Tod gegangen wäre. Aber wie steht es mit dir, Ailis? Ist es nicht dein Wunsch, mich zu töten?«
    »Ich weiß nicht einmal, wer du wirklich bist, Fee oder das Echo.« Tatsächlich wusste sie es sehr genau, und di e ses Eingeständnis war schmerzhaft. Nicht, dass es sie überraschte.
    Alle hatten sie davor gewarnt. Es tat weh, die Wah r heit zu akzeptieren. Fee war tot. Ailis spürte die Leere hinter den Worten des Echos wie einen gähnenden A b grund.
    »Ich bin Fee. Ich bin das Andere. Wir sind

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