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Loreley

Titel: Loreley Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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wuchtigen Umriss des Turmes.
    Ihr erster Besuch an diesem Ort lag nur wenige Tage zurück, doch schon war ihr, als stiege beim Anblick des Bergfrieds eine uralte, halb vergessene Erinnerung in ihr auf.
    Hatte sie nicht gerade erst beschlossen, sich ganz auf ihre Gefühle zu verlassen? Deshalb war sie hergeko m men. Doch was nun, da ihre Furcht ihr befahl, auf schnell s tem Wege von hier zu verschwinden? Sollte sie auch dieser Empfindung gehorchen? Oder kam jetzt doch noch so etwas wie Vernunft oder wenigstens Pflichtg e fühl ins Spiel?
    Es war müßig, daran auch nur einen weiteren Geda n ken zu verschwenden. Sie war hier. Sie hatte Angst, das war alles.
    Die Sonne sank dem westlichen Horizont entgegen. Es würde bald dunkel werden. Der Turm warf einen schwarzen Schatten über den Vorplatz und die Stallu n gen. Schafe, Ziegen und Schweine irrten unbeaufsichtigt zwischen den Schuppen umher. Aus dem Pferdestall e r tönte lautes Wiehern, das Ähnlichkeit mit menschlichen Schreien hatte. Ailis spürte, wie unruhig ihr eigenes Ross wurde, und schließlich stieg sie ab und band es an einem der äußeren Stallgebäude an. Als sie sich von dem Tier entfernte, stand es stocksteif da, mit aufgerichteten Ohren und geweiteten, angsterfüllten Augen. Es witte r te etwas, und es war gewiss nichts, vor dem sich nur Pferde fürc h ten mussten.
    Nirgends war ein einziger Mensch zu sehen. Nur die grunzenden, schnüffelnden und blökenden Tiere liefen auf wirr en Wegen durch den Schlamm am Fuß des Tu r mes, seltsam ziellos und verloren, so als suchten sie nach etwas, zugleich aber ohne Hof f nung, es jemals zu finden.
    Die Dächer kamen Ailis vor, als duckten sie sich vor Anspannung, in der Erwartung irgendeiner Wandlung. Hinter der nächsten Bodenwelle, dort wo die Behausu n gen der Leibeigenen und Bediensteten standen, regte sich nichts. Keine Rauchfahne stieg zum Himmel auf, kein Laut ertönte. Totenstille lag über der Ansiedlung. Ailis überlegte kurz, ob sie hinlaufen und sich umsehen sollte, verwarf den Gedanken aber gleich wieder. Die Gewis s heit überkam sie, dass sie auch dort auf niemanden tre f fen würde, der ihr sagen konnte, was geschehen war.
    Die dunklen Tore und Fensterluken der Stallungen wirkten sonderbar blass und flach, als verberge sich d a hinter keinerlei Tiefe, nur eine pechschwarze Oberfläche. Von den Rändern der Dächer wuchsen geronnene Scha t ten wie Eiszapfen aus Finsternis. Der Boden des Vorpla t zes, eine nachgiebige Masse aus Morast und ausgestre u tem Stroh, schien geheimnisvollen Veränderungen u n terworfen; jedes Mal wenn Ailis auf ihn herabsah, schi e nen sich die festgetretenen Halme verschoben zu haben, als wollten sie rätselhafte Muster und Zeichen bilden, Symbole für irgendetwas, das sie nicht verstand.
    Du machst dich selbst verrückt, schalt sie sich. Es gibt keine Muster und keine tro p fenden Schatten.
    Aber da, sieh doch! Du musst nur hinsehen. Hinhören!
    Da war etwas, tatsächlich. Sie konnte es hören. Es klang weit entfernt, vielleicht auch nur gedämpft durch die dicken Mauern. Ja, natürlich, es kam aus dem Inneren des Turmes. Jemand sang.
    Ailis schaute die Stufen zum Portal des Turmes hi n auf.
    Das Doppeltor stand offen. Auch dort: vollkommene Dunkelheit, flächig wie schwarzes Glas, Einladung und Abschreckung zugleich. Wenn du es wirklich willst, komm her, schienen Tor und Schatten ihr zuzuflüstern. Aber dann gibt es kein Zurück mehr. Für keinen von uns.
    Im Gehen bückte Ailis sich und schöpfte eine Hand voll Schlamm vom Boden. Sie formte kleine Kugeln da r aus, weich wie Brei, und presste sich eine in jedes Ohr. Sie wusste nicht, ob das überhaupt einen Sinn hatte, ob der Gesang des Echos nicht trot z dem zu ihr durchdringen würde. Auch auf den Spielmannswegen hatte sie Klänge als Farben und Lichter wahrgenommen, und selbst das waren nur Bilder gewesen, um das Unbegreifliche grei f bar zu machen. Wenn all die unterschiedlichen Sinne s wahrnehmungen in Wahrheit in einem einzigen Sinn g e bündelt wurden, der nicht mehr zw i schen Hören, Sehen, Schmecken, Riechen und Tasten unterschied, dann war es läche r lich, sich die Ohren zu verstopfen. Ebenso gut hätte sie sich die Zunge herausschneiden oder die Augen ausstechen können. Das wahre Hören wurde durch nichts von all dem beeinträchtigt.
    Statt die Stufen zum Turmportal hinaufzusteigen, lief sie weiter durch den Schlamm, von Stall zu Stall, und warf vorsichtige Blicke hinein. Aus allen Öffnungen schlugen ihr

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