Loreley
selbstständig zu machen, aus ihr hervorzuquellen. Aber sie glaubte nicht mehr, dass es etwas Übernatürliches war. Kein Schatten des Echos, der in ihr zurückgeblieben war.
Nein, ihr neues Vertrauen in sich selbst gab ihr die Kraft, Teile ihrer selbst zu wecken, die bis dahin brac h gelegen hatten. Ihr empfindliches Gehör war nur ein Glied dieser Kette. Da waren andere: ihr Sinn für Musik und die Schärfe, mit der sie Melodien, die sie einmal g e hört und vergessen geglaubt hatte, plötzlich wieder he r vorholen und einsetzen konnte.
Sie spielte und spielte, Melodien, die fremd klangen und doch in ihr waren, irgen d wann gehört und verdrängt, jetzt zu neuem Leben erwacht.
Nachdem sie eine Weile lang musiziert hatte, vol l kommen unbewusst in der Wahl ihrer Tonfolgen und Harmonien, beschloss sie, ein wenig gezielter vorzug e hen. Erst versuchte sie es mit einem einfachen Tanz, den sie während ihrer Reise mit den Spie l leuten gehört hatte. Obwohl sie ihn sich nie bewusst eingeprägt hatte, spielte sie ihn nun von vorne bis hinten, fast ohne Fehler. A n schließend versuchte sie es mit zwei, drei schwierigeren Stücken. Hin und wieder verspielte sie sich, wenn ihre Finger den Bo t schaften aus ihrem Inneren nicht schnell genug gehorchten, doch insgesamt war sie mehr als z u frieden mit sich selbst. Scheinbar über Nacht war sie zu einer passablen Musikantin geworden.
Natürlich wusste sie, dass dieser Anschein trog – ta t sächlich hatte diese Entwicklung Jahre in Anspruch g e nommen, in denen ihre Ohren und ihr musikalisches Empfi n den ohne ihr Zutun geschult worden waren. Erst an der Seite der Spielleute hatte sie mehr über Musik und damit über sich selbst erfahren.
Zuletzt versuchte sie sich an die Melodie hinter der Melodie zu erinnern, an das Tor der Spielmannswege. E i nen Augenblick lang bekam sie Angst. Um so heftiger sie versuchte, sich konkreter Töne zu entsinnen, desto ve r schwommener wurden sie. Erst als sie begann, ihren I n stinkten zu vertrauen, und nach eigenem Gutdünken spie l te, gewann der Nebel aus Klängen in ihrem Kopf an Ge s talt.
Lichter. Töne. Die Melodie hinter der Melodie.
Der Sog riss sie fort, ein Strudel ins Irgendwo. Im se l ben Moment, da sie spürte, wie die Welt um sie im Ch a os der Farben und Klangkaskaden verging, setzte sie die Flöte ab. Gerade noch rechtzeitig.
Der Schlag unter die Fußsohlen war so stark, dass er sie von den Beinen riss. Benommen blieb sie mit dem Gesicht i m Gras liegen, einige Atemzüge lang fast b e täubt vom Anprall der Eindrücke auf ihr ungeschütztes Bewusstsein.
Als sie sich auf den Rücken rollte und langsam den Oberkörper aufrichtete, waren die Eiche und ihr Pferd verschwunden. Erst nachdem sie auf die Füße sprang, aufg e bracht und am Rande einer Panik, entdeckte sie beides am Horizont, klein und verloren in der schieren Unendlichkeit der Hochebene. Unfassbar – die wenigen Töne hatten ausgereicht, Ailis über eine so große Entfe r nung zu tragen!
Es war ein erster Schritt, gewiss. Allerdings wusste sie weder, wie sie die Richtung bestimmen konnte, in der sie die Spielmannswege davontrugen, noch wie sie auf diese Weise je ein bestimmtes Ziel ansteuern sollte. Sie hatte den Eingang aufgestoßen, nicht mehr. Sie kam sich vor wie jemand, dem es nach vielen Versuchen endlich g e lingt, ein Pferd zu besteigen, der aber den Kopf nicht vom Hinterteil unterscheiden kann und keine Ahnung hat, wie er den Gaul dazu bewegen soll zu gehorchen. Dabei hatte sie noch Glück gehabt, sich nicht zu verirren. Wäre sie erst einmal führerlos auf den Spielmannswegen dahingetrieben, hätte nichts sie mehr zurückbringen kö n nen.
Wut überkam sie, Wut auf ihre Unfähigkeit. In einer Aufwallung von Zorn schle u derte sie die Flöte weit von sich, sah sie irgendwo im hohen Gras verschwinden.
Es dauert eine Weile, ehe sie sich wieder in der G e walt hatte. Sie suchte die Stelle, an der die Flöte aufg e prallt war, und entdeckte sie zu ihrer Erleichterung unb e schädigt zwischen den Halmen. Missmutig hob Ailis sie auf und machte sich auf den Weg zu ihrem Lagerplatz.
Sie brauchte fast den ganzen Vormittag, ehe sie ihr Pferd erreichte. Es erwartete sie geduldig am Fuß der knorrigen Eiche. Sogleich band sie sich Flöte und Schwert auf den Rücken, schwang sich in den Sattel und ließ das Ross unter wolkigem Himmel gen Westen g a loppieren.
Erst sah sie den Kraterwall, dann, nachdem sie einen leichten Bogen geritten war, den
Weitere Kostenlose Bücher