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Loreley

Titel: Loreley Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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die anderen höre. Schon seit W o chen. Du wusstest, dass ich irgendwann herkommen würde.«
    »Schon möglich.«
    »Also, warum?«
    »Du hast dir die Antwort doch schon selbst gegeben. Ich war einsam.«
    Ailis’ Blick wanderte erneut über die Kadaver. Ve r krümmte Läufe, weiß gefrorene Zungen. Und überall geweitete Augen. Alle sahen Ailis an. Vorwurfsvoll. W a rum bist du nicht früher gekommen? Dann hätten wir nicht sterben müssen. In Wahrheit hat sie das nur getan, um deine Neugier zu wecken. Damit du freiwillig zu ihr kommst. FRE I WILLIG!
    »Du warst doch auch einsam, oder?«, sagte das Mä d chen. »Ich kann das fühlen. Deine Freundin ist fortgela u fen. Hat dich alleingelassen. So ein Luder!«
    »Fee ist kein Luder!«, gab sie zornig zurück.
    »O, sind wir heute ein wenig empfindlich?« Die Kle i ne m achte eine Pause und fuhr dann fort: »Ist es zu viel verlangt, wenn ich dich bitte, die Tiere beiseite zu scha f fen? Das Blut ist auf meiner Haut gefroren. Mir ist kalt.«
    »Du wirst schon nicht erfrieren. Und falls doch, werde ich nicht dabei zusehen.«
    »Bedeutet das, du willst wieder gehen?« Die Stimme wurde jetzt ein wenig leiser, als steige das Wesen tiefer in den Schacht hinab. Ailis war einen Moment lang ve r sucht, sich weiter vorzubeugen, doch dann begriff sie, dass es genau das war, was das Mä d chen wollte: Ailis sollte ihre Abscheu überwinden und sich den toten He r ren nähern.
    Sie blieb stehen und bald schon sprach die Kreatur wieder lauter. »Was kann ich tun, um dich hier zu ha l ten?«
    »Erzähl mir etwas. Von dir.« Da war sie wieder, ihre Neugier! War sie wirklich b e reit, all das auf sich zu nehmen, nur um zu erfahren, was sich wirklich hinter dem E n gelsgesicht der Kleinen verbarg?
    Noch ein wenig, dachte sie. Nur ein wenig.
    »Ich kann noch mehr tun«, sagte die Mädchenstimme. »Ich kann dich dorthin bri n gen, wo ich herkomme.«
    »Ich glaube nicht, dass ich darauf Wert lege.«
    »Du glaubst, es sei die Hölle, nicht wahr? Hältst du mich wirklich für einen Te u fel?«
    »Etwas in der Art kam mir in den Sinn.«
    »Ailis, Ailis! So jung und so schön, und doch voll mit solch schlechten Gedanken! Dabei könnte ich dir Dinge zeigen …«
    »Erzähl mir davon.«
    Selbst durch die Leichen hindurch zischte die Stimme wie ein Peitschenhieb: »Lass mich ausreden!«
    Ailis tat unbeeindruckt, aber sie wusste, dass die Kre a tur ihre Aufregung wittern konnte, jeden winzigen Schweißtropfen, der irgendwo aus ihrem Körper trat, j e des noch so leichte Zucken, jeden schnellen Atemzug.
    »Ich sagte, ich könnte dir Dinge zeigen«, begann das Wesen von neuem, und abe r mals fiel Ailis ihm – bewusst gegen den Befehl verstoßend – ins Wort: »Wenn ich nur das Gitter öffne. Ich weiß.«
    Eine Pause entstand, dann sagte das Wesen langsam: »Du hast Verstand, Ailis. Das ist einer der Gründe, we s halb ich dich diesen Vierbeinern vorziehe.«
    »Wenn ich das Gitter aufschließe, kommst du heraus. Was sollte mich daran re i zen?«
    »Ich könnte es dir befehlen!«
    »Aber das willst du nicht. Dir liegt viel daran, dass ich dir aus freien Stücken helfe. Also?«
    »Nun«, meinte die Kreatur, »wer sagt denn, dass ich herauskomme? Viel besser, Ailis: Du könntest herei n kommen! Dieser Brunnen hier ist gar kein Brunnen. Aber das hast du dir gewiss schon denken können.«
    »Er ist ein Kerker. Für dich. Das war er schon immer.«
    »Falsch! Kein Kerker. Vielleicht im Augenblick, das muss ich wohl eingestehen. Aber früher, da war er etwas anderes. Ein Tor, Ailis! Überlege doch – ein Tor!«
    »Ein Tor wäre ich, würde ich dir ein Wort glauben.«
    Das Wesen lachte. »Du erheiterst mich. Ich liebe ein kluges Wortspiel.« Dann sagte es: »Dieser Schacht sieht aus wie ein gewöhnliches Loch im Berg, das ist wahr. Aber wo führt er hin? In die Erde? O ja, kein Zweifel daran. Aber wohin noch?«
    »Sag es mir.«
    »Können wir vielleicht einen kleinen Preis aushandeln für diese … Auskunft?«
    »Nein.«
    »Du bist hartherzig. Gemein. Unanständig.«
    »Wohin führt der Schacht?«
    Wieder ertönte leises Gelächter. »Der Schacht führt einfach nur in den Fels. Aber das Tor, Ailis, das führt nach Faerie!«
    Sie erinnerte sich, dass der lange Jammrich diesen Namen erwähnt hatte. Und dass er sie davor gewarnt ha t te, wie vor so vielem anderen.
    »Was ist das?«, fragte sie.
    »Liebe Güte, seit Jahrtausenden fragen die Menschen, wo es ist. Aber die Frage, was es ist, höre ich zum ersten

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