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Loreley

Titel: Loreley Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Erdwälle waren ebe n so unter Schnee begraben wie die kahlen Baumgerippe und das dürre, tote Buschwerk. Alles weiß. So unschu l dig. Und zugleich so bedrohlich.
    Was war es nur, das verschneite Landschaften so Angst einflößend machte? Sie waren wunderschön, g e wiss. Und a uch Ailis genoss die Stille, die der Schnee mit sich brachte. Dennoch blieb ein Rest von Furcht. Der Winter schien das Land abzutöten, vielleicht war es das. Nahm ihm alles Lebendige, die Tiere und die Töne. Alles wurde hart, steif. Wie Leichenstarre.
    Sie überwand den letzten Wall und die Mauerreste auf seinem Kamm und dann hä t te sie eigentlich das Gitter sehen müssen.
    Aber das Gitter war fort.
    Am Ende des Plateaus, wenige Schritte vor der Stei l wand, erhob sich ein kleiner Hügel, genau über dem Brunnenschacht. Auch er war mit Schnee bedeckt, doch an vielen Stellen stachen dürre, knorrige Formen hervor.
    Äste, dachte Ailis. Dann aber sah sie den toten Fuchs am Fuß des Hügels. Sein Fell war vereist, aber nicht z u geschneit.
    Je näher Ailis dem Hügel kam, desto mehr steifgefr o rene Körper entdeckte sie. Maulwürfe, Igel, Marder – Tiere, die der Lockgesang des Mädchens aus dem Wi n terschlaf gerissen hatte. Noch mehr Füchse und Vögel, dann die eingeschneite Form eines Hundes oder, wah r scheinlicher, die eines Wolfes.
    Ailis war wie betäubt, setzte trunken vor Entsetzen e i nen Fuß vor den anderen. Schließlich ging sie am Rande der Erhebung in die Hocke, schob vorsichtig die obere Schneeschicht beiseite. Bald schon stieß sie auf gefror e nes Blut und hartgewordene Fellborsten, auf bizarr a b stehende Vogelschwingen und verkrampfte Krallen, au f geri s sene Schnäbel und gefletschte Fänge. Pfoten und Tatzen ragten willkürlich abgewinkelt aus dem Gewirr der Kadaver, dazwischen der Schwanz eines Wolfes, aufgerichtet, leicht gebogen, als sei er während des W e delns festgefroren. Die unteren Tiere h atten sich in blindwütiger Befolgung des Lockrufs selbst auf den Stahldornen des Gitters aufgespießt, oftmals mehrere auf einer Spitze; jene, die später gekommen waren und ke i nen Platz mehr auf den furchtbaren Stacheln gefunden hatten, waren einfach sitzen geblieben, bis der Tod sie holte. Sie waren erfroren, während sie geduldig auf das warteten, was der Gesang ihnen verheißen hatte. Traur i ge, verlorene Geschöpfe, blind und taub von einer Seh n sucht, die ihnen die Kreatur im Schacht in ihre arglosen Geda n ken gepflanzt hatte.
    »So so«, erklang gedämpft eine Stimme durch den Kadaverwall. »Verloren geglaubt und endlich heimg e kehrt.«
    Ailis stolperte auf die Beine und atmete scharf aus. Eine weiße Wolke verdampfte vor ihrem Gesicht. Sie hatte nicht wirklich erwartet, dass das Mädchen sich mit ein paar toten Tieren zufrieden geben würde. Einen A u genblick lang war es, als käme die Sti m me geradewegs aus den aufgerissenen Mäulern und Schnäbeln.
    »Denk jetzt bitte nicht schlecht über mich«, sagte das Mädchen, doch falls es fa l sche Betroffenheit und Hohn in seinen Tonfall legte, so gingen sie auf dem Weg ins Freie verloren.
    Ailis hatte die Verlogenheit dieser Kreatur niemals stärker empfunden. »Warum hast du das getan?«, fragte sie.
    »Warum versammelt der Pfaffe seine Schäfchen um sich? Oder der Christengott die Seelen?« Ein eisüberz o genes Wolfsauge schien Ailis eindringlich anzustarren. »Wir schenken Erlösung, Ailis. Frieden. Das Ende der Hoffnungslosigkeit.«
    Ailis schüttelte den Kopf. »Die Wahrheit ist, du warst einsam.« Sie hörte sich reden wie eine Fremde. »Und weil du von dir selbst nicht weißt, ob du wirklich lebst oder tot bist, ist es dir gleichgültig, was mit den anderen geschieht, die d ir Gesellschaft leisten.« Sie wies mit einer Handbewegung über die Kadaver. Dann erst fiel ihr ein, dass das Mädchen sie durch die Körper gar nicht sehen konnte. Oder etwa doch?
    »Ich bin sehr froh, dass du lebst«, erwiderte die dum p fe Kinderstimme.
    »Tote lassen sich schwerlich dazu bewegen, Schlüssel zu stehlen«, entgegnete Ailis höhnisch.
    »Ach, das ist alles so mühsam«, sagte das Mädchen ungeduldig. »Tote sind so schrecklich dumm. Ohne eig e nen Willen. Der Tod frisst Gehirne, hast du das gewusst? Außerdem neigen sie dazu, unterwegs Körperteile zu verlieren. Es sei denn, sie sind sehr frisch, und sie – «
    »Warum bin ich hier?«, unterbrach Ailis sie.
    »Das weiß ich nicht. Ich habe dich nicht gerufen.«
    »Aber du hast gewusst, dass ich den Gesang für

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