Loreley
setzen, und man erzählte, dass es auch dort schon Tote gegeben hatte.
In der siebten Woche nach Fees Abreise und Ailis’ letztem Besuch auf dem Lurli n berg wurde es plötzlich wärmer. Der mannshohe Schnee auf den Bergen taute über Nacht fast zur Hälfte fort, und zwei Tage später ve r rieten nur noch vereinzelte Flecken aus besonders wide r spenstigem Eis, dass hier bis vor kurzem der Winter mit all seiner Macht gewütet hatte.
Erland musste jetzt häufiger die Schmiede verlassen und sich wie alle anderen Männer an den zahlreichen Ausbesserungsarbeiten an der Burg beteiligen. Neben vielen beschädigten Fenstern hatte auch das Haupttor der Burg Schaden davongetragen, und Erland verbrachte drei volle Tage damit, alle Metallteile des Tores zu überpr ü fen und zu vermessen.
Ein Großteil musste ersetzt werden, und so war abz u sehen, dass in den kommenden Wochen viel Arbeit auf ihn und sein Lehrmädchen wartete.
Während Erland im Freien beschäftigt war, versuchte Ailis so gut es ging den B e trieb in der Schmiede aufrecht zu halten. Sie schmiedete ihre ersten Hufeisen und brac h te sie selbst an den Hufen der Pferde an, obgleich ihr die Arbeit an den Tieren nach wie vor zuwider war.
Sie versuchte sich auch an der Herstellung eines Schwertes, und obwohl ihr bald schon der ganze Obe r körper weh tat und sie sicher war, dass ihr rechter Arm am näch s ten Tag vor Schmerzen steif sein würde, geriet ihre erste Waffe nicht einmal schlecht. Erland jedenfalls lobte sie überschwänglich und bemängelte lediglich, dass die Spitze zu dünn und damit zu zerbrechlich war. Trot z dem zeigte er ihr, wie sie die Waffe noch verfeinern konnte, und nachdem Ailis das Schwert fertig gestellt hatte, hängte er es neben den Eingang der Schmiede und wies jeden Besucher stolz darauf hin. Ailis fühlte sich großartig, auch wenn sie es nicht offen zugeben wollte, und sie begann allmählich zu akzeptieren, dass ein Leben ohne Fee vielleicht nicht ganz so schlimm war, wie es zuerst den Anschein gehabt hatte.
Gewiss, sie vermisste sie noch immer, horchte in G e danken auf ihre Stimme, stellte sich ihre Berührung und den Duft ihres Haars vor. Aber da war auch etwas in ihr, das ihr sagte, Fee sei jemand aus ihrer Vergangenheit, und es sei an der Zeit, sich von Vergangenem zu trennen und die Zukunft ins Auge zu fassen.
Wie sie es sich vorgenommen hatte, war Ailis nicht mit zur Trauung von Fee und Baan gereist, und sie hatte auch darauf verzichtet, sich von einem der Teilnehmer einen Bericht geben zu lassen. Sie hatte nur gehört, dass die Feier g anz nach Plan verlaufen sei und dass der Graf während des Heimritts den Wunsch geäußert hatte, bald Großo n kel eines kleinen Jungen zu werden. Fees Vater, so hieß es, habe während der ganzen Reise kaum ein Wort gesprochen, und seit der Heimkehr verbrachte er wieder die meiste Zeit in seinem Gemach. Hin und wi e der sah man ihn mit der Gräfin über die Zinnen wandern, mit gerunzelter Stirn und düsterem Blick, und hinter vo r gehaltener Hand begannen die ersten einander zu fragen, warum Eberhart wohl noch immer nicht abgereist sei, wie er es doch ursprünglich vorgehabt hatte.
Schließlich waren elf Wochen vergangen, seit Fee an Baans Seite fortgezogen war. Allmählich machte sich der Frühling bemerkbar. Die ersten Knospen brachen auf, heimkehrende Vogelschwärme zogen über den Himmel und auf dem Rhein waren Flöße und Fischerboote zu s e hen. Der Salmenfang am Ufer wurde wieder aufgeno m men und es kamen vermehrt fahrende Händler zur Burg und brachten Waren und G e schichten aus der Ferne.
»Habt Ihr schon gehört, was man sich erzählt?«, fragte einer dieser Händler. Er hatte mit Erland über eine si l berne Spange verhandelt, die er in einer der großen Stä d te – fraglos für den vielfachen Preis – weiterverkaufen wollte.
Erland schüttelte den Kopf. Die Dinge, über die man sich andernorts das Maul ze r riss, bedeuteten ihm nichts.
Ailis aber horchte sogleich auf. Sie freute sich, G e schichten über Menschen von weither zu hören, und so fragte sie: »Was erzählt man sich denn, Herr?«
Der Händler lächelte, zufrieden, jemanden gefunden zu haben, vor dem er sich mit seinem Wissen brüsten konnte. »Es heißt, dunkle Ereignisse werfen ihre Scha t ten vo r aus.«
»Weibergeschwätz«, bemerkte der Schmied abfällig, während er in einer Kiste nach weiteren Schmuckstücken suchte.
»Erland!«, rügte Ailis ihn vorwurfsvoll. Und zum Händler sagte sie:
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