Loreley
Mal. Jeder Mensch kennt Faerie, Ailis! Und jeder war, wenigstens im Traum, schon einmal dort.«
»Ich habe meine eigenen Träume. Ich brauche keine, die du mir verschaffen kön n test.«
»Nicht so ungeduldig! Menschen besuchen Faerie im Traum, aber es ist kein Traumland. Faerie ist Wirklic h keit.«
»Und?«
»Es ist das Reich von Titania.«
»Der Königin der Feen?«
»Ah, dieser Pfeil ging ins Schwarze!« Das Wesen k i cherte. »Ich weiß, was du jetzt denkst. Du wärest lieber mit einer einzigen, ganz besonderen Fee zusammen als mit vielen, die du gar nicht kennst.«
»Lass Fee aus dem Spiel. Sie hat nichts mit dir zu tun.«
»Wie wahr, wie wahr. Sie ist fortgegangen, aber du bist hier. Und du wirst für i m mer hier bleiben, wenn dich nicht irgendwer aus dieser Burg, diesem Leben herau s holt.«
»Und du glaubst, dieser jemand bist du?«
»Wer sonst? Dir liegt nichts an Märchenprinzen, das wissen wir doch beide. Und deine Märchenprinzessin ist auf und davon!«
»Sie wird zurückkommen.«
»So? Auf einem weißen Pferd vielleicht?«
Ailis zuckte zusammen. Gab es irgendetwas, das sich vor dieser Kreatur geheimha l ten ließ?
»Nicht viel«, sagte die Stimme, bevor Ailis die Frage laut aussprechen konnte. »Deine Gedanken verraten vi e les über dich. Alles, fürchte ich.«
Das Wesen log, dessen war Ailis sicher. Hätte es wir k lich ihre Gedanken lesen können, hätten sich viele seiner Fragen erübrigt. Und es schien bereits lange genug zu existieren, um von dem Weißen Pferd gehört zu haben. Viele Menschen aus dieser Gegend gingen dorthin, wenn sie Sorgen hatten, das war kein Geheimnis.
Aber Ailis sprach ihre Zweifel nicht aus. Sie versuc h te, ihre Gedanken im Zaum zu halten, nur für den Fall, dass ihre Vermutung falsch war.
»Was ist nun?«, fragte das Wesen ungeduldig. »Möc h test du, dass ich dich nach Faerie bringe? Du wärest dort nie allein.«
Als ob sie das reizen könnte! Sie war mehr als glüc k lich, wenn alle sie in Frieden ließen.
»Du würdest dort mehr als nur einer Fee begegnen«, säuselte die Stimme des Mä d chens. »Vielen schönen Feen!«
»Hör auf damit!«, verlangte Ailis wutentbrannt und schalt sich selbst eine Närrin. Sie durfte dem Wesen nicht zeigen, dass es sie aus der Fassung zu bringen vermoc h te. Sie musste ruhig wirken, überlegen, dann war sie vie l leicht sicher. Solange sie eine Herausforderung darstellte, würde die Kreatur versuchen, sie ohne den Lockgesang auf ihre Seite zu ziehen. Doch was, wenn Ailis ihre G e duld überschätzte? Dieses Wesen war schon zu lange in dem Schacht gefangen, um sich länger als nötig auf i r gendwelche Spielchen einzulassen.
»Was bist du?«, fragte sie leise.
»Ich bin der Wächter des Tors. Oder die Wächterin, ganz wie du willst. Ich bin das Echo.«
Hüte dich vor dem Lurlinberg und seinem Echo, hatte der Lange Jammrich gesagt. Besonders vor dem Echo!
»Ruf von diesem Berg aus in die Tiefe, und was z u rückschallt, ist meine Stimme«, sagte das Wesen stolz. »Ich bin der Diener der Stimmen, der Knecht des G e räuschs. Und es gibt viele wie mich.«
»Aber wie – «
»Wie ich lebe, wie ich mit dir reden kann? Jedes Echo könnte das, wenn es den Mut dazu besäße.«
»Aber dein Körper …«
»Ist eben das – nur ein Körper.«
Ailis warf sich herum und floh. Sie dachte nicht nach über das, was geschehen mochte, oder über das, was sie gerade gehört hatte. Sie lief davon und stolperte, sprang wieder auf, rannte weiter. Fiel erneut, als sie den Hang erreichte, stürzte in die Tiefe wie eine Lawine. Sie schrie vor Überraschung und vor Schmerzen, und als sie sich wieder aufrappelte, hallte ihr Schrei noch immer von den Berghängen wider, brach sich zwischen den Felsen, vi b rierte über dem Schnee.
Mein Schrei, meine Stimme!, dachte sie verzweifelt.
Hörst du, Echo? Meine Stimme ganz allein!
Doch von heute an wusste sie es besser.
10. Kapitel
D ie Schneeschmelze setzte in diesem Jahr erst spät ein. In der Schmiede erfuhr Ailis von durchreisenden Hän d lern, dass in den umliegenden Dörfern viele Menschen an Hunger und Kälte gestorben waren. Sie erinnerte sich an die Gesichter der Männer auf dem Weg nach Burg Re i chenberg, und sie fragte sich, ob einige von ihnen oder ihre Frauen und Kinder unter den Toten waren. Wie groß musste der Hass dieser Menschen auf Graf Wilhelm und die Bewohner der Burg sein! Denn selbst bei diesem Wetter ließ der Graf die Arbeiten an der neuen Feste for t
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