Lorettas letzter Vorhang
erklärt und gesagt hatte, daß sein Vater sie ihr im vergangenen Jahr zu ihrem ersten Hochzeitstag geschenkt hatte. Sie atmete tief und schloß die Augen. Er ist ein Kind, dachte sie beschämt, fremd in seiner eigenen Familie, er braucht Geduld. Aber wenn er glaubt, daß ich so schnell aufgebe, hat er sich mächtig geirrt.
«Madame – ach, was für ein Unglück. Paßt auf, Ihr verletztEuch ja, laßt mich das machen.» Blohm stand in der offenen Salontür, sah bekümmert auf die Scherben.
«Ja, ein Unglück. Ich bin heute schon den ganzen Tag so ungeschickt. Mein Ellbogen, nun, die Vase stand eben im Weg, und es ist nicht mehr zu ändern. Aber ruf besser Betty, Blohm, sie soll die Scherben behutsam einsammeln, vielleicht kann man doch noch etwas davon retten.»
«Sofort, Madame.» Blohm war sichtlich erleichtert, seine steifen alten Knie nicht selbst beugen zu müssen. «Aber ich wollte Besuch melden. Madame Matthew ist in der Diele, mit zwei anderen Damen.»
«Jetzt?» Sie warf eilig einen Blick aus dem Fenster. Vor dem Haus stand eine offene zweispännige Kutsche. Den Mann auf dem Bock hatte sie nie zuvor gesehen. Er trug einen Kutscherrock aus offensichtlich teurem schwarzem Tuch in gutem Schnitt, und sein breites Gesicht unter der akkuraten, allerdings etwas steifen Perücke war ausdruckslos.
«Jetzt», sagte Blohm düster. «Eine ganz unpassende Zeit.» Der alte Diener war lange genug Faktotum des Hauses, um die Grenzen des Respektes ab und zu unscharf werden zu lassen. Er sah das bekümmerte Gesicht seiner Herrin und schlug mit nur wenig gesenkter Stimme vor: «Am besten schicke ich die Mesdames wieder weg. Ich könnte sagen …»
«Nein, Blohm, vielen Dank. Aber das können wir nicht machen. Obwohl es mir jetzt wirklich überhaupt nicht paßt.»
Anne hatte eine Verabredung mit Dr. Reimarus. Der Arzt war wie sie brennend an der Verbreitung der Blitzableiter interessiert. Sie hatte versprochen, ihm heute die Übersetzung eines neuen englischen Aufsatzes zu bringen. Außer in den amerikanischen Kolonien, wo diesenoch ziemlich neue Erfindung gelungen war, was Reimarus, wie er betont hatte, erstaunte, denn in den wilden Landschaften jenseits des Atlantischen Ozeans konnte es mit den Wissenschaften nicht weit her sein, hatte man bisher nur in England Erfahrungen mit dem Gewitterschutz. In Hamburg, wo der Blitz so oft einschlug und gerade erst den Turm der Nikolaikirche beschädigt hatte, hielten die Herren im Rat ebenso wie die Kirchenoberen diese segensreiche Erfindung für modische Spielerei. Oder Gotteslästerung. Ganz nach Weltanschauung. Auch Claes machte sich gerne über die Blitzfängerei, wie er es nannte, lustig. Anne hatte sich den ganzen Vormittag auf das Gespräch mit Reimarus gefreut. Endlich ein Besuch, bei dem nicht nur freundlich über das Wetter, den geplanten neuen Saal im Bosselhof oder über den Mangel an fettem Fleisch in der italienischen Küche geplaudert wurde.
Natürlich war es trotzdem völlig unmöglich, Agnes und ihre Begleiterinnen wieder wegzuschicken. Auch wenn Anne sich in diesem Moment nichts sehnlicher gewünscht hätte, einen solchen Fauxpas würde sie sich niemals erlauben. Und da kam Agnes Matthew auch schon hereingerauscht.
«Meine liebe Cousine», rief sie, «ich muß dir Thomas’ Geschenk zeigen. Ist er nicht entzückend?»
Mit beiden Händen hielt sie Anne ein mausgraues Wesen mit schwarzem Gesicht entgegen, klein, rundlich und trotz der pechschwarz glänzenden, etwas vorstehenden Augen von äußerst grämlichem Ausdruck, als sei es höchst unzufrieden mit der breiten weißen Seidenschleife, die seinen kurzen, dicken Hals zierte.
«Sag der Dame guten Tag, Carlino, sag schön guten Tag. Ist er nicht entzückend? Keine Angst, er ist erst einJahr alt, aber ganz zahm. Und rein. Möchtest du ihn nicht einmal auf den Arm nehmen?»
Und schon drückte sie Anne ihren rundlichen Mops in den Arm, trat einen Schritt zurück und klatschte zufrieden in die Hände. «Sehr schön. Obwohl ich, ohne eitel sein zu wollen, sagen muß, daß er mich besser kleidet.» Sie lachte hell wie ein Porzellanglöckchen. «Er ist einfach zu rundlich für dich, zu dir paßt – nun, ich weiß es im Moment nicht, aber ich werde darüber nachdenken und es Claes wissen lassen. Ein Spitz vielleicht? So ein hübscher kleiner Hund ist doch eine echte Zierde …»
Ein zartes Räuspern drang durch Agnes’ Redeschwall, worauf sie ohne Pause fortfuhr: «… und außer Carlino habe ich dir
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