Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lotte in Weimar: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Lotte in Weimar: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Lotte in Weimar: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann , Werner Frizen
Vom Netzwerk:
gehöre. Jene andere Grenze dagegen, die den Himmel berühre, die wolle mit höchstem Seelenschwunge und auf reiner Bahn nur überflogen sein. – Das war ja recht schön, aber der einsamen Logenbesucherin schien es, als liefere der Autor und freiwillige Jäger mit seinen beiden Grenzen eine unerfahrene und fehlerhafte Topographie des Moralischen. Die Grenze der Menschheit, grübelte sie, war vielleicht nur eine, jenseits welcher weder Himmel noch Hölle, oder sowohl Himmel wie Hölle lagen, und die Größe, welche diese Grenze überschritt, war möglicherweise auch nur eine, also, daß Ruchlosigkeit und Reinheit sich in ihr auf eine Weise mischten, von der die kriegerische Unerfahrenheit des Dichters ebenso wenig wußte, wie von der sogar enormen Klugheit und Feinfühligkeit der Kinder. Vielleicht aber wußte er auch davon und war nur der Meinung, in der Poesie gehöre es sich so, daß man Kinder als rührende Idioten hinstelle und zwei verschiedene Grenzen der Menschheit statuiere. Es war ein talentvolles Stück, aber sein Talent war darauf gerichtet, ein Theaterstück herzustellen, wie es nach allgemeiner Übereinkunft sein sollte, und die Grenze der Menschheit überschritt der Dichter nun einmal gewiß nach keiner Seite. Nun ja, die junge Schriftsteller-Generation, es stand wohl bei vieler Geschicklichkeit doch alles in allem etwas klaterig um sie, und gar viel hatten die großen Alten am Ende von ihr nicht zu fürchten.
    So opponierte sie und schlug sich innerlich noch mit ihren Einwänden herum, als, nach dem letzten Fallen der Gardine, unter Applaus und Aufbruch, der Bediente vom Frauenplan wieder ehrerbietig bei ihr erschien und ihr die Mantille um die Schultern legte.
    {435} »Nun, Carl«, sagte sie, (denn er hatte ihr mitgeteilt, daß er Carl gerufen werde) »es war sehr schön. Ich habe es sehr genossen.«
    »Das wird Excellenz freuen zu hören«, antwortete er, und seine Stimme, der erste nüchtern-unrhythmische Laut des Alltags und der Wirklichkeit, den sie nach stundenlangem Verweilen im Erhabenen wieder vernahm, machte ihr bewußt, daß ihre Kritteleien zum guten Teil den Zweck hatten, den Zustand von hochmütiger und etwas weinerlicher Entfremdung zu dämpfen, in den der Umgang mit dem Schönen uns leicht versetzt. Nicht gern kehrt man diesem wieder den Rücken, das zeigte der hartnäckige Beifall der im Parterre stehen gebliebenen Leute, der nicht sowohl den Schauspielern Dankbarkeit bezeigen sollte, als daß er vielmehr das Hilfsmittel war, sich noch ein wenig an die Sphäre des Schönen zu klammern, bevor man es aufgab, die Hände sinken ließ und in Gottes Namen ins gemeine Leben zurückkehrte. Auch Charlotte, schon in Hut und Umhang, stand, während der Diener wartete, noch einige Minuten an der Logenbrüstung und applaudierte in ihre seidenen Halbhandschuhe. Dann folgte sie dem vorangehenden Carl, der sich wieder mit dem Rosettencylinder bedeckte, die Treppe hinab. Ihre vom Schauen aus dem Dunkeln ins Helle ermüdeten, aber glänzenden Augen blickten dabei nicht geradeaus, sondern schräg aufwärts – zum Zeichen, wie sehr sie doch wirklich das Trauerspiel genossen hatte, mochte das mit den beiden Grenzen auch anfechtbar gewesen sein.
    Der Landauer, mit aufgeschlagenem Verdeck, zwei Laternen zuseiten des hohen Bocks, auf welchem der salutierende Kutscher seine Stulpenstiefel gegen das schräge Fußbrett stemmte, hielt wieder vor dem Portal, und der Bediente war Charlotten beim Einsteigen behilflich, breitete auch fürsorglich eine Dekke über ihre Kniee, worauf er den Schlag verwahrte und sich mit geübtem Schwunge draußen hinauf an die Seite des Kutschers {436} beförderte. Der schnalzte, die Pferde zogen an, der Wagen setzte sich in Bewegung.
    Sein Inneres war wohnlich – kein Wunder, hatte er doch bei Reisen gedient und ferner zu dienen ins Böhmische und an den Rhein und Main. Das gesteppte Tuch in Dunkelblau, mit dem er ausgeschlagen war, wirkte elegant und behaglich, eine Kerze im Windglas war in einer Ecke angebracht, und sogar Schreibzeug stand zur Verfügung: an der Seite, wo Charlotte eingestiegen war und sich niedergelassen hatte, steckten ein Block und Stifte in einer Ledertasche.
    Stille saß sie in ihrem Winkel, die Hände über ihrem Nécessaire gekreuzt. Durch die kleinen Fenster des Paravents, der den Kutschbock vom Wageninneren trennte, fiel zerstreutes, unruhig wechselndes Licht der Laternen zu ihr herein, und in diesem Lichte bemerkte sie, daß sie gut getan hatte,

Weitere Kostenlose Bücher