Lourdes
nach den Erzählungen seiner Mutter vorgestellt hatte. Sie hatte ihn allerdings niemals anderes als aufrichtige Verehrung und Hochachtung des teuren Verstorbenen gelehrt. Aber war er nicht der Ungläubige, der Mann der Verneinung, der die Engel weinen machte, der Helfershelfer der Ruchlosigkeit, die sich gegen Gottes Werk richtete? So war er eine düstere Schreckenserscheinung gewesen, ein Verdammter, der als Gespenst im Hause umging, während er jetzt zum hellen, freundlichen Licht wurde, als ein von heißem Verlangen nach Wahrheit beseelter Arbeiter, der niemals anderes erstrebt hatte als die Liebe und das Glück aller. Doktor Chassaigne, ein Sohn der Pyrenäen, geboren in einem Dorfe, wo man noch an Hexen glaubte, würde sich noch eher der Religion zugewendet haben, wenn er auch seit den vierzig Jahren, die er in Paris lebte, seinen Fuß niemals in eine Kirche gesetzt hätte. Er war der felsenfesten Überzeugung, daß Michel Froment, wenn es irgendwo einen Himmel gäbe, sich dort befände und auf einem Throne zur Rechten des lieben Gottes säße.
Und Pierre durchlebte noch einmal in wenigen Minuten die entsetzlichen zwei Monate, in deren Verlauf ihn eine schwere Krisis heimgesucht hatte, nicht etwa, weil er in der Bibliothek Bücher antireligiösen Inhalts gefunden hatte, sondern es war nach und nach ganz gegen seinen Willen in ihm eine wissenschaftliche Klarheit aufgestiegen, ein Ganzes von bewiesenen Phänomenen hatte sich gebildet und die Dogmen zerstört und in ihm nichts von all den Dingen übriggelassen, an die er glauben sollte. Er kam sich nach der Krankheit wie neugeboren vor, es schien, als ob er noch einmal anfinge zu leben und zu lernen in dem angenehmen körperlichen Befinden des Wiedergenesenden, in jenem noch nicht ganz gekräftigten Zustande, der seinem Verstande eine durchdringende Klarheit verlieh. Im Seminar hatte er unter dem Einflusse seiner Lehrer seinen nachgrübelnden Geist, seinen unstillbaren Wissensdurst im Zaume gehalten. Was man ihn lehrte, das überraschte ihn wohl. Aber er kam doch dahin, seine Vernunft der Lehre zum Opfer zu bringen. In jener Zeit wurde der mühsame Bau des Dogmas durch eine Empörung der siegenden Vernunft gestürzt, die ihr Recht forderte und nicht mehr zum Schweigen gebracht werden konnte. Die Wahrheit brach sich mit so unwiderstehlicher Gewalt Bahn, daß er einsah, er würde niemals wieder den Irrtum in seinem Geiste von neuem zur Herrschaft bringen können. Es war der vollständige Zusammenbruch des Glaubens. Wenn er es vermocht hatte, das Fleisch in sich zu töten, indem er auf den Traum seiner Jugend verzichtete, wenn er so sehr Herr über seine Sinnlichkeit war, daß er aufgehört hatte, Mann zu sein, so wußte er jetzt doch, daß ihm der Verzicht auf seine Vernunft unmöglich sein würde. Und er täuschte sich nicht. Es war sein Vater, der in seinem Innern wieder erstand, und der schließlich in diesem ererbten Dualismus über die Mutter den Sieg davontrug. Sein langes Gesicht mit der hohen Stirn seinen sich noch verlängert zu haben, während das feine Kinn und der weiche Mund immer mehr zurücktraten. Und doch empfand er Trauer darüber, daß er nicht mehr glaubte, und das heiße Verlangen, noch glauben zu können, überwältigte ihn immer wieder, wenn sein gutes Herz, sein Bedürfnis nach Liebe wach wurde in stillen Dämmerstunden. Dann mußte erst die Lampe kommen, er mußte wieder Helligkeit in und um sich sehen, um die Energie und die Ruhe seiner Vernunft wiederzufinden, die Stärke des Märtyrers, den Willen, alles für den Frieden seines Gewissens zu opfern.
Schließlich hatte sich die Krisis gelöst. Er war Priester und glaubte nicht mehr. Wie ein unendlicher Abgrund tat sich diese Erkenntnis vor ihm auf. Das war das Ende seines Lebens, der Zusammenbruch von allem. Was sollte er tun? Gebot ihm nicht die Ehrlichkeit, die Soutane von sich zu werfen und wieder in die Welt zurückzukehren? Aber er hatte schon genug abtrünnige Priester gesehen, und hatte sie verachtet. Ein verheirateter Priester erfüllte ihn mit Abscheu. Das war ohne Zweifel ein Überbleibsel seiner langen religiösen Erziehung. Er hielt noch fest an der Unverletzlichkeit des Priestertums, an dem Gedanken, daß der, der sich Gott geweiht hatte, sich nicht wieder frei machen könnte. Vielleicht hielt er sich auch schon für zu sehr gekennzeichnet, für so verschieden von den anderen Menschen, daß er fürchten mußte, von ihnen als ein Fremder in ihrer eigenen Welt angesehen zu
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