Lourdes
lang leidenschaftlich mit der Sache beschäftigt, von der reinen Gestalt der Seherin wunderbar angezogen, zugleich aber auch empört über das, was später geschehen war, über den rohen Fetischismus, über den jammervollen Aberglauben, über die triumphierende Geschäftstüchtigkeit. In seinem Ringen mit dem Unglauben schien diese Geschichte nur dazu zu dienen, die Niederlage des Glaubens zu beschleunigen. Zugleich aber war sie auch derart, daß sie seine Wißbegierde reizte. Er hätte gern eine Untersuchung angestellt, die wissenschaftliche Wahrheit festgestellt und dem reinen Christentum den Dienst erwiesen, es von dieser Schlacke zu befreien. Er hatte sein Studium aufgeben müssen, da er vor einer Reise nach der Grotte zurückschreckte und die übergroßen Schwierigkeiten erkannte, die ihm die Beschaffung der ihm fehlenden Aufschlüsse machte. So lebte in ihm nur seine zärtliche Liebe für Bernadette fort, an die er nie ohne eine wunderbar rührende Empfindung und ohne unendliches Mitleid denken konnte.
Die Tage schwanden dahin. Pierres Leben wurde immer einsamer. Doktor Chassaigne war plötzlich nach den Pyrenäen gereist. Er hatte seine Praxis aufgegeben und seine kranke Frau nach Cauterets gebracht, die, wie er und seine Tochter mit Bekümmernis sahen, täglich mehr und mehr dahinschwand. Seit dieser Zeit war es in dem kleinen Haus in Neuilly ganz einsam geworden. Pierre hatte keine andere Zerstreuung als die Besuche, die er von Zeit zu Zeit bei Guersaints machte. Sie waren schon lange aus dem Nachbarhaus fortgezogen und hatten sich in einer elenden Straße des Stadtviertels in einer kleinen Wohnung eingemietet. Die Erinnerung seines ersten Besuches dort lebte noch so in ihm, daß er jedesmal einen Stich in seinem Herzen verspürte, wenn er sich seine Aufregung beim Anblick der armen Marie wieder ins Gedächtnis zurückrief.
Er erwachte aus seinen Träumereien, sah sich um und bemerkte Marie ausgestreckt auf der Bank liegen, so, wie er sie damals wiedergefunden hatte, gefesselt an ihren einer Dachrinne ähnlichen Sarg, an dem man Räder anbringen konnte, um sie fortzubewegen. Sie, die einst übersprudelte, immer bereit, zu lachen und zu springen, litt unter der Untätigkeit und dem erzwungenen Stilliegen. Nur ihre Haare hatten sich erhalten. Sie umhüllten sie wie ein goldener Mantel. Sie selbst war so abgemagert, daß sie kleiner geworden zu sein und die Finger eines Kindes wiederbekommen zu haben schien. Was aber in diesem bleichen Gesichte am schmerzlichsten berührte, das waren die leeren, starren Blicke, die nichts sahen, die einen Ausdruck des vollständigen Aufgehens in ihrer Krankheit hatten. Dennoch bemerkte sie, daß er sie ansah, und wollte ihm zulächeln. Nur Klagelaute entschlüpften den Lippen dieses armen, gelähmten Wesens, das überzeugt war, es würde vor dem Wunder sterben! Er war tief erschüttert. Er hörte nur noch sie, er sah nur noch sie unter allen den anderen Kranken, die der Wagen beherbergte, gleichsam als ob sie all die anderen Qualen in dem Todeskampf ihrer Schönheit, ihres Frohsinns und ihrer Jugend zusammenfaßte.
Allmählich kehrte Pierre, ohne daß seine Augen Marie verließen, in die Vergangenheit zurück. Er durchkostete noch einmal die Stunden, die er in ihrer Nähe verlebt hatte, wenn er in die armselige Wohnung hinaufgestiegen war, um ihr Gesellschaft zu leisten. Herr von Guersaint hatte sich vollständig ruiniert, da er sich in den Kopf gesetzt hatte, die Fabrikation von Heiligenbildern zu verbessern, deren Mittelmäßigkeit ihn ärgerte. Sein letztes Vermögen hatte der Bankerott eines Farbendruckgeschäftes verschlungen. In seiner Zerstreutheit und seinem Mangel an Umsicht bemerkte er gar nichts von der peinlichen Lage, die sich immer mehr verschlimmerte. In seiner kindlichen Liebe verließ er sich ganz auf den lieben Gott und war schon wieder mit dem Problem der Lenkbarkeit der Luftballons beschäftigt, ohne zu sehen, welch übermenschliche Anstrengungen seine ältere Tochter Blanche machen mußte, um wenigstens den Lebensunterhalt für die kleine Familie zu erwerben, für ihre beiden Kinder, wie sie ihren Vater und ihre Schwester nannte. Blanche schaffte das nötige Geld, das die Pflege Mariens erforderte, herbei, indem sie vom Morgen bis zum Abend in ganz Paris bei Hitze und Regen umherlief und französischen Sprachunterricht und Klavierstunden erteilte. Marie war oft der Verzweiflung nahe, brach in Tränen aus und klagte sich an, daß sie die Hauptursache des
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