Lourdes
wie sie an jenem kalten Novembermorgen fast ganz allein in der kleinen dunklen Kapelle kniete und, das Gesicht in die Hände gedrückt, lange weinte, während er die Hostie in die Höhe hob. Sie hatte damals ihr letztes Glück genossen, denn sie lebte einsam und verhärmt. Ihren älteren Sohn sah sie nie. Der war, von anderen Ideen ergriffen, fortgegangen und hatte alle Beziehungen zu seiner Familie abgebrochen, seitdem sein Bruder sich entschlossen hatte, Priester zu werden. Man sagte, daß Guillaume, wie sein Vater ein bedeutender Chemiker, aber verbummelt und in revolutionären Träumereien befangen, ein kleines Haus an der Bannmeile bewohnte, wo er sich mit gefährlichen Studien über Sprengstoffe beschäftigen sollte. Man fügte hinzu, er habe jedes Band zwischen sich und seiner frommen und ehrbaren Mutter dadurch gelöst, daß er in wilder Ehe mit einer Frauensperson lebte, von der man nicht wußte, woher sie stammte. Seit drei Jahren hatte ihn Pierre, der in seiner Jugend Guillaume wie einen älteren väterlichen und guten, lustigen Freund verehrt hatte, nicht wiedergesehen.
Der Tod der Mutter war der nächste schwere Kummer seines Lebens. Es war ein ganz unerwarteter Schlag. Nach einer nur dreitägigen Krankheit war sie plötzlich verschieden. Er hatte sie eines Abends, als er weggelaufen war, um einen Arzt zu holen, bei seiner Rückkehr tot wiedergefunden. Während seiner Abwesenheit war sie gestorben, und seine Lippen hatten noch den erkalteten Hauch ihres letzten Kusses bewahrt. An das übrige erinnerte er sich nicht mehr, weder an die Totenwache noch an die Vorbereitungen, noch an die Beerdigung. Alles dies verschwand in dem Dunkel seines Schmerzes, der so wild sich aufbäumte, daß er beinahe daran gestorben wäre. Bei der Rückkehr vom Friedhof hatte ihn ein heftiger Schüttelfrost befallen, ein Fieber stellte sich ein, und drei Wochen schwebte er, unaufhörlich phantasierend, zwischen Leben und Tod. Sein Bruder war gekommen und hatte ihn gepflegt. Dann hatte Guillaume sich mit der Erbschaftsangelegenheit beschäftigt und nach der Teilung des kleinen Vermögens ihm das Haus und eine kleine Rente überlassen, während er seinen Anteil in barem Gelde mitnahm. Als er ihn außer Gefahr gesehen hatte, war er wieder gegangen und in sein Dunkel zurückgekehrt. Pierre hatte nichts getan, um Guillaume zurückzuhalten, denn er sah ein, daß zwischen ihnen eine weite Kluft sich gebildet hatte. Anfangs hatte er unter der Einsamkeit schwer gelitten. Dann aber hatte er sich in der tiefen Stille der Zimmer, die der Lärm der Straße nicht störte, und unter dem verschwiegenen Schatten des kleinen Gartens sehr wohl befunden. Sein Zufluchtsort war vor allem das alte Laboratorium seines Vaters, das seine Mutter zwanzig Jahre sorgfältig verschlossen gehalten hatte, gleichsam als wollte sie auf diese Weise dort die Vergangenheit mit ihrem Unglauben und ihrer Verdammnis einmauern. Vielleicht wäre sie trotz ihrer Sanftmut und ihrer andächtigen Verehrung für den Gatten doch noch eines Tages zur Vernichtung der Bücher und Papiere geschritten, wenn der Tod sie nicht überrascht hätte. Pierre hatte die Fenster wieder öffnen, den Schreibtisch und die Bücher abstauben lassen, sich in dem großen Lehnstuhl niedergelassen und verbrachte dort köstliche Stunden. Wie neugeboren durch seine Krankheit und in die Tage seiner Jugend zurückversetzt, genoß er durch die Lektüre der Bücher, die ihm unter die Hände kamen, ein ihm unbekanntes geistiges Behagen.
Während dieser zwei Monate langsamer Wiedergenesung hatte er, soviel er sich erinnerte, nur den Doktor Chassaigne empfangen. Das war ein alter Freund seines Vaters, ein gediegener Arzt, der sich bescheiden auf seine Eigenschaft als Praktiker beschränkte und nur den einen Ehrgeiz besaß, seine Kranken zu kurieren. Vergebens bemühte er sich um Frau Froment, aber er durfte sich rühmen, den jungen Priester aus einer schlimmen Lage gerettet zu haben. Von Zeit zu Zeit besuchte er ihn, plauderte mit ihm und suchte ihn zu zerstreuen. Er erzählte ihm von seinem Vater, dem großen Chemiker. Er wußte reizende Anekdoten von ihm zu berichten und rührende Einzelheiten einer innigen Freundschaft. So hatte sich der Sohn während seiner langsam fortschreitenden Erholung von seinem Vater ein Bild von verehrungswürdiger Einfachheit, Güte und Liebenswürdigkeit gebildet. Das war sein Vater, wie er wirklich war, und nicht der Mann der strengen Wissenschaft, wie er sich ihn früher
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