Lourdes
begaben und sie lächelnd fragten: »Wollen Sie mit uns kommen ?« dann überfiel sie ein leiser Schauder, und sie antwortete schnell: »Nein, nein, aber wie gerne möchte ich es, wenn ich ein kleiner Vogel wäre!«
Ihr einziger Traum war dieser kleine, wandernde Vogel mit dem schnellen Fluge und den stummen Flügeln, der beständig nach der Grotte pilgerte. Sie war nicht nach Lourdes gegangen, nicht beim Tode ihres Vaters, nicht bei dem ihrer Mutter, und sollte dort immer und ewig nur im Traume leben. Dennoch liebte sie ihre Angehörigen. Sie bemühte sich, ihrer arm gebliebenen Familie Arbeit zu verschaffen und hatte ihren älteren Bruder empfangen wollen, der nach Nevers gekommen war, um sich zu beklagen, und den man vor der Tür des Klosters stehen ließ. Aber er fand sie müde und gefaßt. Sie fragte ihn nicht einmal nach dem neuen Lourdes, als wenn diese immer wachsende Stadt sie gar nichts angehe.
Im Jahre der Krönungsfeierlichkeit der Heiligen Jungfrau erzählte ihr ein Priester, den sie beauftragt hatte, für sie vor der Grotte zu beten, bei seiner Rückkehr von den unvergeßlichen Wundern, von den Hunderttausenden der herbeigeeilten Pilger, von den fünfunddreißig in Gold gekleideten Bischöfen in der strahlenden Basilika. Sie zitterte, und es überflog sie ein leichter Schauder des Wunsches und der Unruhe. Und als der Priester ausrief: »Ach, wenn Sie diesen Glanz gesehen hätten«, da erwiderte sie:
»Ich – ich befand mich hier besser, in meinem Krankensaal, in meinem kleinen Winkel.«
Man hatte ihr ihren Ruhm geraubt, ihr Werk hallte wider von einem nie endenden Hosianna, sie aber genoß die Freude nur noch in der Vergessenheit, in diesem Klosterschatten, in dem sie die üppigen Pächter der Grotte verkümmern ließen. Die rauschenden Feierlichkeiten boten ihr keine Veranlassung zu ihren geheimnisvollen Reisen. Der kleine Vogel ihrer Seele flog nur ganz allein in den Tagen der Einsamkeit, in den ruhigen Stunden dorthin, wenn niemand ihre Andacht stören konnte. Zu der wilden, ursprünglichen Grotte kehrte sie zurück und kniete dort zwischen den Rosenbüschen nieder, und zwar versetzte sie sich in die Zeiten zurück, da der Gave noch von keinem Monumentalquai umgeben war. Dann besuchte sie bei Sonnenuntergang, in der duftigen Frische der Berge, die alte Stadt, die alte, bemalte und halb vergoldete spanische Kirche, in der sie ihr erstes Abendmahl genommen, das alte Hospiz mit dem milden Leiden, in dem sie acht Jahre lang zurückgezogen gelebt hatte, die ganze, arme und unschuldige Stadt, in der jeder Pflasterstein in ihrem Gedächtnis alte, zärtliche Erinnerungen weckte.
Und pilgerte Bernadette niemals in ihren Träumen bis nach Bartrès? Man muß annehmen, daß ihr Bartrès manchmal erschien und die Nacht ihrer Augen erhellte, wenn sie, in ihrem Krankenstuhl sitzend, irgendein frommes Buch aus ihren müden Händen gleiten ließ und die Wimpern schloß. Die antike, kleine Kirche im romanischen Stil mit ihrem himmelfarbenen Schiff, mit ihren blutigen Altarblättern stand unter den Gräbern des engen Kirchhofs vor ihr da. Dann fand sie sich wieder in dem Haus der Lagues, in dem geräumigen Zimmer links, in dem ein Feuer brannte und in dem man im Winter so schöne Geschichten erzählte, während die große Uhr mit ernsten Schlägen die Stunde verkündete. Dann dehnte sich die ganze Landschaft vor ihr aus, endlose Wiesen, riesenhafte Kastanienbäume, unter denen man gleichsam verloren war, öde Ebenen, von denen aus man die fernen Berge sah, den Pic du Midi, den Pic de Viscos, die sie, leicht und rosig wie Träume, mitten in das Paradies der Legenden entführten. Dann erschien ihre Kindheit, da sie noch herumlief, wo es ihr gefiel. Ihre dreizehn einsamen und träumerischen Jahre erschienen, da sie ihre Lebensfreude noch durch die weite Natur führte. Und sah sie sich in dieser Stunde nicht wieder, wie sie durch die Hagedorngebüsche streifte und in der warmen Junisonne im hohen Grase spielte? Sah sie sich nicht, wie sie schon herangewachsen war, mit einem Liebhaber, der in ihrem Alter stand und den sie in aller Einfachheit und Zärtlichkeit ihres Herzens geliebt hätte? Ach, könnte sie doch wieder jung werden, frei sein und aufs neue, aber anders lieben! Die Vision wurde unklar: sie sah einen Gatten, der sie anbetete, Kinder, die fröhlich um sie heranwuchsen. Sie durchlebte das Dasein der ganzen Welt, die Freuden und Leiden, die ihre Eltern gekannt hatten und die ihre Kinder ebenfalls hätten
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