Lourdes
stolz wäre, antwortete sie ganz einfach: »Monsignore kommt nicht, um mich zu sehen, sondern um mich zu zeigen.« Fürsten der Kirche, große Kämpfer des Katholizismus wollten sie sehen, gerieten in Rührung und schluchzten bei ihrem Anblick, und in ihrem Abscheu, als Schauspiel zu dienen, geärgert über das Unbehagen, das sie ihrer Einfachheit bereiteten, verließ sie diese Menschen sehr müde und traurig, ohne sie begriffen zu haben.
Allmählich hatte sie sich ihr Leben in Saint-Gildard eingerichtet, führte hier ein sanftes Dasein und hatte sich jetzt in den Gewohnheiten, die ihr lieb und wert geworden, eingelebt. Sie war so schmächtig und so häufig krank, daß man sie im Krankensaal beschäftigte. Abgesehen von den wenigen Handreichungen, mit denen sie sich hier nützlich machte, schaffte sie rührig und wurde schließlich eine ziemlich geschickte Arbeiterin, denn sie stickte sehr fein Chorhemden und Altardecken. Aber häufig fehlte ihr jede Kraft, sie konnte sich nicht einmal mehr ihren leichten Arbeiten widmen. Wenn sie nicht im Bett lag, so brachte sie lange Tage in einem Lehnstuhl zu, und ihre einzige Beschäftigung bestand darin, den Rosenkranz zu beten oder fromme Geschichten zu lesen. Seitdem sie lesen konnte, interessierten sie die Bücher, die schönen Bekehrungsgeschichten, die schönen Legenden, in denen die heiligen Männer und Frauen vorkamen, aber auch die schönen und schrecklichen Dramen, in denen der Teufel verhöhnt und wieder in seine Hölle zurückgeschleudert wurde. Der Gegenstand ihrer großen Zärtlichkeit, ihr beständiges Entzücken blieb jedoch die Bibel, das herrliche Neue Testament, dessen Wunder sie niemals ermüdeten. Sie erinnerte sich an die Bibel von Bartrès, an jenes alte, vergilbte Buch, das seit hundert Jahren in der Familie war. Sie sah ihren Vater, den Bauern, wie er an jedem Abend aufs Geratewohl eine Nadel hineinsteckte und die Vorlesung dann oben rechts auf der Seite begann. Und schon damals kannte sie die wunderbaren Geschichten auswendig, so daß sie nach jedem Satz hätte fortfahren können. Jetzt, da sie selbst las, fand sie darin eine ewige Überraschung, ein stets neues Entzücken. Namentlich begeisterte sie die Erzählung der Leidensgeschichte wie ein außerordentliches, tragisches Ereignis, das sich erst am vorigen Tage vollzogen. Sie schluchzte vor Mitleid, ihr ganzer, armer, krankhafter Körper zitterte noch stundenlang vor Mitgefühl. Vielleicht lag in ihren Tränen der unbewußte Schmerz über ihre eigene Leidensgeschichte, sie dachte an das traurige Golgatha, das auch sie seit ihrer Kindheit bestieg.
Wenn Bernadette keine Schmerzen hatte und sich im Krankensaal beschäftigen konnte, dann ging sie hin und her und erfüllte das Haus mit ihrer lebhaften Kinderfröhlichkeit. Bis zu ihrem Tode blieb sie das unschuldige, kindliche Geschöpf, das gern lachte, sprang und spielte. Sie war sehr klein, die kleinste Nonne, und deshalb behandelten ihre Gefährtinnen sie immer ein wenig als kleines Mädchen. Das Gesicht verlängerte sich, es gruben sich Runzeln ein, und es verlor den Glanz der Jugend, aber die Augen bewahrten ihre reine und göttliche Klarheit, diese schönen Augen einer Seherin, darin wie in einem durchsichtigen Himmel lichte Träume vorüberzogen. Als sie älter wurde und Schmerzen litt, war sie ein wenig gereizt und heftig, ihr unruhiger und manchmal rauher Charakter verbitterte sich, und gerade über diese kleinen Unvollkommenheiten hatte sie nach den Anfällen grausame Gewissensbisse. Sie demütigte sich, glaubte sich verdammt und bat jedermann um Verzeihung. Sie war lebhaft, flink, fand Entgegnungen, Betrachtungen, die zum Lachen reizten und hatte eine eigene Anmut, wegen deren man sie anbetete. Trotz ihrer großen Frömmigkeit, obwohl sie ganze Tage im Gebet zubrachte, verkörperte sie keine hartherzige Religion, trieb sie keineswegs die anderen zu übermäßigem Eifer an, sondern war verständnisvoll und mitleidig. Im allgemeinen war sie kein heiliges Mädchen, sondern mehr Frau, mit eigenartigen Zügen, eine klare, selbst in ihrem kindlichen Wesen reizvolle Persönlichkeit. Und diese Gabe der Kindheit, die sie bewahrte, diese einfache Unschuld des Kindes, das sie geblieben war, bewirkte wieder, daß die Kinder sie verehrten. Alle liefen zu ihr, sprangen auf ihre Knie und legten ihre kleinen Arme um ihren Hals. Und nun hallte der Garten von Laufen und Schreien wider, und sie lief nicht etwa am wenigsten, sie schrie auch nicht am wenigsten,
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