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Love Alice

Love Alice

Titel: Love Alice Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nataly Elisabeth Savina
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Mama davon erzählt hat. Und es sah gut aus. Ich würde es nicht übers Herz bringen, von Cherry wegzuziehen. Mama starrt mich aus den Laken an, wie ein Karnickel aus dem Bau.
    »Es sind die Nerven, Schatz. Ich kann nicht …«, sagt sie.
    »Ich rufe uns ein Taxi«, sage ich und bin auf einmal der Riese, der ich gerade sein wollte.
    »Uns?«, sagt Mama.
    »Ich halte dir im Publikum die Daumen, ja, Mama? Wir müssen uns aber beeilen, oder?«
    Ich greife unter die Decke und ziehe ihre schmale Hand heraus. Ich massiere die langen Finger und die zarte Handfläche. Mama schnieft, aber genießt es sichtlich.
    »Ich habe Cherry abgesagt, sie versteht das. Sie hält dir auch die Daumen, hat sie gesagt. Komm, Mama, du kannst das Publikum nicht enttäuschen«, sage ich, gehe aus dem Zimmer und komme gleich wieder, mit einem Stapel glitzernder Abendkleider in den Händen.
    »Welches wird’s, Mama?«, frage ich.
    Sie sitzt nun schon aufrecht da, ihre Augen sind weit offen und strahlen.
    »Welches möchtest du anziehen?«, frage ich.
    Cherry läuft unterdessen zum Karateunterricht. Um sie herum feiert der Frühling, der Wald zeigt sich flirtend von seiner schönsten Seite. Cherry springt auf den Kieswegen herum, macht Karatefiguren und wärmt sich auf. Um ihre Schulter baumelt die Tasche mit ihrer Jacke. Sie muss sich ganz auf sich konzentrieren, das nimmt sie sich vor, und darf nicht traurig darüber sein, dass alle sie im Stich gelassen haben. Sie fühlt sich nicht allein, es ist schließlich nicht die letzte Prüfung. Sie weiß, dass wir sowieso später zusammen feiern werden. Es geht einzig darum, den Geist zu befreien. Auch das ist eine Karateregel.
    Ich sitze in Mamas Garderobe. Ein bunter Raum voller Licht und Stoffe, Pappköpfe mit Perücken und Unmengen von Schminkzeug. Assistentinnen, Visagisten, Schauspieler. Nervöse Leute. Mama trägt ein opulentes Ballkleid und wird von einer hageren Frau geschminkt. Ich stehe daneben und sehe zu. Mama starrt in den Spiegel, aber mit ihrer Hand greift sie nach mir. Kurz habe ich den Eindruck, als wäre ich viel älter und klüger – eine Respektsperson.
    Während Hannah Blumberg geschminkt wird, macht Cherry Aufwärmübungen im leeren Studioraum. Sie springt von einem Bein aufs andere und schlägt mit fest zusammengedrückter Faust immer wieder in die Luft. Ihr rotes Haar ist zu einem Zopf zusammengebunden, wie bei einer richtigen Kampfamazone.
    Die Musik verschlingt die Opernbühne. Mamas Gesang scheint von überall, nur nicht aus ihrer Kehle zu kommen. Sie leidet, liebt und verzweifelt, wandert auf der Bühne wie eine Betrunkene, schwankt vor Inbrunst. Ich frage mich, ob mein Vater auch diese Dimension an Gefühlen gekannt hat. Ich zittere, ich weiß, wie stark Mama sie sonst unterdrückt. Ich bin stolz zu sehen, wozu sie fähig ist, wenn sie sich gehen lässt und alles rauslässt.
    Mama liegt auf einem riesigen Bett mitten auf der Bühne, Laken hängen von allen Seiten hinab, schleifen auf dem Boden, das Licht bildet einen Mondscheinkreis um sie. Sie trägt ein Nachthemd und hält einen Brief in der Hand, der sich wie eine Tapetenrolle über den Boden schlängelt. Sie macht den Mund auf, ihre Sirenenstimme strömt heraus.
    Ich kann die Übersetzung des italienischen Gesangs oberhalb der Bühne auf einem schlichten Monitor lesen:
    »Das Herz liebte einst so zärtlich, das Glück schien so unendlich! All das verschwunden … vorbei! Oh großer Gott! So hör die Gebete und dem verronnenen Leben verzeih die Wirrungen! Ach, erlischt, mein Leben erlischt, erlischt, mein Leben erlischt!«
    Mamas Wangen sind rot angemalt, in die Musik um ihre Stimme herum werden Fastnachtsgeräusche des Karnevalumzugs vom Band eingeflochten.
    Um Mamas Bett versammeln sich Alfredo, Graf Germont, Annina und der Arzt. Sie tänzeln in einer eleganten Choreografie um Mama herum und schauen betroffen. Mama singt: »Mir ist so leicht, auf einmal ging der Schmerz, alles zur Ruhe kam in mir, als ob durch irgendeine Kraft sei ich ins Leben zurückversetzt! Als ob … das Leben … Ja, das Leben ist zurückgekehrt! Oh Freude!« Sie sinkt zu Boden. Das Licht ist auf die kleine tote Violetta im Zentrum gerichtet.
    Cherry und die anderen Karateschüler führen verschiedene Figurenformationen aus. Die karge Sporthalle ist weit weniger glamourös als die Oper, es gibt kein parfümiertes Publikum und keine Glatzen im Orchester. Die Prüfungskommission, die aus drei Lehrern besteht, sieht aufmerksam zu und nickt ab und

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