Lucian
Bewusstseins aufzuflackern drohten.
»Bist du jetzt wieder stumm geworden?«, erkundigte sich Val. Sie hatte sich vor mich auf das Bett gehockt und studierte mein Gesicht. Ihr Blick war intensiv und abschätzend, als wäre ich eine bestellte Ware, von der sie überlegte, ob sie sie behalten oder wieder zurückgeben sollte.
»Nein«, sagte ich und versuchte, noch einmal zu lächeln. »Danke für den Kuchen. Er schmeckt wirklich lecker.«
Val ließ mich nicht aus den Augen.
»Also ich finde, du siehst genau wie mein Dad aus«, stellte sie schließlich fest.
Ich überlegte, ob das in ihren Augen ein Vorteil oder ein Nachteil war. Im Gegensatz zu mir sah Val unserem Dad nicht im Geringsten ähnlich.
»Mom findet es nämlich nicht«, fuhr Val fort. »Sie sagt, du hast höchstens Dads unteilhafte Seiten. Was sind unteilhafte Seiten?«
»Das kann dir vielleicht deine Mom besser erklären«, sagte ich, aber Val war ohnehin schon mit der nächsten Frage beschäftigt: »Packst du jetzt deine Geschenke aus?«, wollte sie mit funkelnden Augen wissen.
Ich sah auf den Geschenkeberg. Ich tat es Val zuliebe, die sich mit Feuereifer auf meine Bescherung stürzte. Papier wurde aufgerissen, Bänder flogen durch die Luft und Val reichte mir feierlich, als wäre sie selbst das Geburtstagskind, ein Geschenk nach dem anderen. Mechanisch nahm ich sie entgegen. Eine Digitalkamera, ein Gutschein für Fahrstunden und ein prachtvoller Fotoband von Los Angeles waren von Dad. Sebastian hatte mir ein Survivalpaket geschickt, einen roten Erste-Hilfe-Kasten, bestehend aus meinen Lieblingssüßigkeiten und einer Sammlung selbst gebrannter CDs.
Von Suse bekam ich einen knallroten Badeanzug und ein silbernes Armband mit einem Anhänger. Es war ein halbes Herz, in das die Worte Friends forever eingraviert waren.
»Und was war da drin?«, fragte meine Schwester. Sie zeigte auf das geöffnete Kästchen mit der Aufschrift: Sponglia beatificae.
»Ein Glücksschwamm«, sagte ich leise und sah zum Schreibtisch, wo ich ihn hatte liegen lassen. Das letzte Paket trug die Aufschrift von Mama , aber als Val es öffnen wollte, hielt ich ihre Hand fest. »Das nicht«, sagte ich entschlossen. »Meinst du nicht, es wird langsam Zeit zu schlafen? Es ist ganz schön spät.«
»Noch nicht!«, sagte Val und hielt mir ein schmales Päckchen hin. »Erst musst du mein Geschenk aufmachen.«
Ich lächelte meine kleine Schwester an, es ging schon viel leichter. »Du hast mir doch den Kuchen geschenkt.«
Val sah mich erstaunt an. »Ein Kuchen ist kein Geschenk. Los! Aufmachen!«
Ich gehorchte. In dem Päckchen war ein Porträt von Val. Es war mit einem einfachen Bleistift gezeichnet und es war wunderschön. Val saß am offenen Fenster, sie trug ihr weißes Nachthemd und die hellen Locken fielen ihr über die Schulter. Ihre großen Augen mit den dichten Wimpern blickten mich direkt an. Sie sah sehr ernst aus, still, völlig in sich ruhend. Wer immer dieses Bild gezeichnet hatte, hatte etwas in ihr entdeckt, das man auf den ersten Blick nicht sah. Aber das allein machte das Bild nicht so ungewöhnlich. Die Konturen der linken Seite des Porträts waren doppelt gezeichnet, die zweite Linie war sehr zart und dünn, nur angedeutet.
»Was bedeutet das?«, fragte ich Val.
Sie zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung«, sagte sie. »Faye hat das einfach dahin gemalt.«
»Faye?« Ich runzelte die Stirn.
»Mein Kindermädchen«, erwiderte Val. »Sie ist cool. Sie kann machen, dass niemand sie sieht. Magst du das Bild?« Val musterte mich streng. »Du musst dich bedanken. Ich habe sehr lange stillgesessen für dein Geschenk.«
»Danke«, sagte ich und nahm Val in den Arm. »Aber jetzt wird geschlafen. Du musst morgen doch bestimmt zur Schule, oder?«
Val zog die Nase hoch. Zum ersten Mal klang sie schüchtern. »Kann ich bei dir im Bett schlafen?«
Sie schaute mich so flehentlich an, dass ich einwilligte.
Zutraulich wie ein Hundebaby schlüpfte meine kleine Schwester zu mir unter die Bettdecke. Sie streckte ihre kalten Zehen zwischen meine Beine und war im nächsten Moment eingeschlafen. Ich lauschte ihren ruhigen, regelmäßigen Atemzügen, die ab und zu von einem leisen Seufzen unterbrochen wurden, und versuchte dabei wie jede Nacht gegen den Schlaf anzukämpfen.
An eine Zeit, in der Schlaf Erholung bedeutet hatte, konnte ichmich kaum noch erinnern. Jede Nacht träumte ich davon, dass ich starb. Es war derselbe Todestraum, den ich zum ersten Mal an jenem Mittwoch
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