Lucian
ich Atem geschöpft hatte. Val wog nicht viel, aber es war lange her, seit ich etwas außer meinem eigenen Körpergewicht getragen hatte. »Hey. Du träumst. Wach auf. Du träumst . . .«
Val schlug die Augen auf. »Du kannst sprechen?«
Ich nickte. Nicht nur das. Offensichtlich konnte ich auch hören. Richtig hören – nicht wie durch Watte.
Val sah mich ungläubig an. »Noch mal. Sag noch mal was.« »
Hallo«, sagte ich. »Du hast schlecht geträumt.«
Val gähnte, wobei sie ihren Mund weit aufriss und eine Reihe spitzer weißer Zähne zum Vorschein brachte.
»Ich weiß«, sagte sie. Ihre Stimme war hoch, sie hatte einen singenden Klang. »Ich träume oft schlecht.«
»Wovon?«
»Von Monstern.«
»Wollen sie dich fressen?«
»Nein.« Val rieb sich die Augen. Sie waren groß und tiefblau, mit langen, dichten Wimpern. »Ich will sie fressen. Es sind sehr kleine Monster. Sie haben Angst vor mir. Und wenn sie anfangen zu zittern, kriege ich auch Angst. Ist das dumm? Angst zu haben vor sich selbst?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte ich.
»Dann ist gut.« Val sah zufrieden aus. »Ich glaube, Monster schmecken sowieso nicht gut. Ich hab dir einen Kuchen gebacken.«
Ich nickte. »Er steht noch vor der Tür.«
»Hol ihn.« Vals singende Stimme nahm einen strengen Befehlston an.
Es war ein Schokoladenkuchen mit Bananenstücken und Nüssen. Val wollte, dass ich ihn aufschnitt, und jeder von uns aß ein kleines Stück. Der Kuchen schmeckte unglaublich süß und ich hoffte, dass er mir nicht auf den Magen schlug.
»Bist du jetzt wieder gesund?«, fragte Val.
Ich verzog den Mund und nahm verwundert wahr, dass auch Lächeln körperliche Kraft erforderte. Die Muskeln in meinen Armen und Beinen hatte ich mit der Krankengymnastin trainiert, die Lachmuskeln nicht.
»Ja«, sagte ich versuchsweise. »Ich bin wieder gesund.«
»Ich war auch mal im Krankenhaus«, verkündete Val. »Das war, als ich vom Baumhaus auf den Zaun geknallt bin. Poff, und dann war ich unmächtig!« Val ließ sich zurück auf mein Bett plumpsen und riss die Augen auf. »Warst du auch unmächtig?«
»So ähnlich«, sagte ich, denn das traf es eigentlich am besten. Ich war ohnmächtig vor Schmerzen gewesen, drei Monate lang. Sebastian hatte es gut gemeint, als er mir den Song von Linkin Park geschickt hatte, aber die Lyrics trafen es nicht annähernd. Ich konnte selbst keine Worte dafür finden, was mit mir geschehen war. Die Schmerzen hatten im Flugzeug angefangen und waren immer stärker und stärker geworden, je länger ich hier war.
Ich hatte nicht, wie alle vermuteten, aus Trotz, Wut oder Verzweiflung das Essen verweigert und geschwiegen. Hätte ich den Mund geöffnet, hätte ich wahrscheinlich nur geschrien und nicht mehr aufgehört, so wie auch der Schmerz nicht aufhörte.
Er hielt mich in seinen Klauen wie ein gefräßiges Monster, dem ich hilflos ausgeliefert war, und übertönte alle anderen Gefühle und Gedanken, zu denen ein Mensch vielleicht fähig ist.
Merkwürdigerweise war die Klinik, vor der mich alle so eindringlich gewarnt hatten, meine Rettung gewesen. An dem Tag, an dem Dad mich dorthin brachte, waren die Schmerzen so unerträglich geworden, dass ich alles getan hätte, nur damit sie aufhörten. Ich hätte mich wahrscheinlich sogar umgebracht, wenn ich die Möglichkeit gehabt hätte. Als ich zusammengekrümmt in meinem Krankenhausbett lag, merkte ich, wie es um mich herum hektisch wurde. Wasauch immer die Ärzte mir an diesem Tag gegeben hatten – es half. Ab da wurde es besser, in winzigen Schritten. Anfangs wurde ich künstlich ernährt, irgendwann konnte ich wieder selbst essen. Mein Körper erinnerte sich mühsam daran, dass er Muskeln hatte und tatsächlich imstande war, sie einzusetzen. Im Fitnessraum und im Schwimmbad bekam ich meine äußere Stärke zurück, und als mein Vater mich heute abgeholt hatte, sagten die Ärzte, ich sei körperlich wiederhergestellt. Meinen seelischen Zustand konnten sie nicht beurteilen. Das konnte ich nicht einmal selbst, denn als die körperlichen Schmerzen nachließen, hatte ich einen anderen Weg gefunden, gefährliche Gedanken auszublenden.
Dabei hatte Spatz mir geholfen. Auch wenn ich ihre Mail zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht gelesen hatte, erinnerte ich mich ausgerechnet an die Stelle mit der toxischen Abwehr ganz genau. Sie war zu einer Art Mantra geworden, das ich jedes Mal vor mich hin sagte, wenn die verbotenen Gedanken unter der Oberfläche meines
Weitere Kostenlose Bücher