Lucy & Olivia - Die Vampirprüfung
dachte sie und schnitt eine Grimasse. Sie senkte den Kopf, um ihr Gesicht hinter einem Vorhang aus dunklen Haaren zu verstecken, und begann, sich durch die Menge zu drängeln. Im Mittelpunkt des Interesses zu stehen, war schädlich für Lucys Gesundheit; das war wie ein Sonnenbad im Bikini ohne Sunblocker.
Zum Glück gelang es Lucy, das Getümmel zu durchqueren, ohne dass sie noch jemand erkannte. Als sie am anderen Ende der Menge wieder auftauchte, bemerkte sie eine weitere Schar von Leuten, die sich in ein Klassenzimmer zwängte. Sie schlich sich an, stellte sich auf die Stahlkappen ihrer Springerstiefel und linste über die Köpfe der anderen hinweg.
Olivia war vor der Tafel eingekeilt, sie hatte immer noch ihren Mantel an. Flankiert wurde sie von Toby Decker, der den Artikel für die Schülerzeitung verfasst hatte, und ihrer Freundin Camilla Edmunson, die einen blauen Kapuzenpulli mit der Aufschrift Die Gegenwart war die Zukunft trug. Camilla war ein absoluter Science-Fiction-Fan.
Die Leute riefen Olivia Fragen zu.
»Könnt ihr die Gedanken der anderen lesen?«
»Wurdet ihr bei der Geburt operativ getrennt?«
»Seid ihr schon mal den Olsen-Zwillingen begegnet?«
Olivia versuchte zu antworten, aber sie wurde ständig unterbrochen.
»Wusstest du schon immer, dass du eine Zwillingsschwester hast?«, rief ein Mädchen mit einer roten Baskenmütze.
Irgendwie schon, dachte Lucy. Wenn sie zurückblickte, hatte sie immer das Gefühl gehabt, in ihrem Leben fehle etwas. Aber bis zu dem Tag, an dem sie Olivia begegnet war, hatte sie nicht gewusst, was es war.
In der Mitte des Klassenzimmers kletterte Garrick Stephens, der wahrscheinlich uncoolste Vampir der ganzen Schule, mit seinen fettigen Haaren auf einen Tisch. »Hat jemand eine Frage dazu, wie ich mal während einer Beerdigung aus einem Sarg geklettert bin?«, rief er. Garrick und seine schwachsinnigen Freunde – alias die Bluthunde – hatten vor Kurzem eine Hexenjagd im überregionalen Fernsehen ausgelöst, die beinahe die Existenz von Vampiren ans Licht gebracht hätte. Jetzt war er ganz offensichtlich neidisch, dass jemand anders all die Aufmerksamkeit auf sich zog. Irgendjemand warf ihm einen Radiergummi an den Kopf, sodass er das Gleichgewicht verlor und vom Tisch fiel.
Lucy konnte sich das Lachen nicht verkneifen. Ein Mädchen vor ihr drehte sich um und keuchte.
»Hier ist Lucy! Die Zwillingsschwester!«, rief sie.
Die Wörter »Lucy« und »Zwillingsschwester« machten die Runde durch die Menge. Die Leute wandten ihr die Köpfe zu.
Oh-oh , dachte Lucy.
»Wenn eine von euch sich wehtut, spürt die andere das?«
»Warum habt ihr nicht dieselbe Augenfarbe?«
»Habt ihr identische Muttermale?«
Bald schrie und redete und drängte sich alles um Lucy genau wie um Olivia. Anstatt zu versuchen, eine Frage zu beantworten, konzentrierte sich Lucy darauf, nicht umgerannt zu werden.
Plötzlich ertönte ein ohrenbetäubender Pfiff. Augenblicklich verstummte die Menge. Camilla stand vorne auf einem Tisch, hielt eine Hand gebieterisch hoch und zwei Finger der anderen an ihren Lippen. Sie sah aus wie ein Verkehrspolizist. »Ruhe, bitte!«, befahl sie. Dann sprang sie vom Tisch und zwängte sich durch die Menge. Sie griff nach Lucys Hand und zog sie hinter sich her bis zu Olivia.
Die Schwestern wechselten einen nervösen Blick. »Du hast gesagt, den Artikel liest niemand!«, flüsterte Lucy.
»Ups.« Olivia zuckte mit den Schultern.
Viele fotografierten mit ihren Fotohandys die beiden Schwestern Seite an Seite und erleuchteten so den Raum mit ihrem Blitzlichtgewitter.
»Lucy und Olivia können nur eine Frage nach der anderen beantworten!«, verkündete Camilla. »Wenn ihr eine Frage habt, hebt die Hand.« Dutzende von Händen wurden hochgerissen. Camilla wollte gerade jemanden aufrufen, als eine vertraute hohe Stimme kreischte: »Aus dem Weg!«
Die Menge teilte sich und Charlotte Brown – Nachbarin, Erzfeindin und Kapitänin der Cheerleading-Mannschaft
– bahnte sich ihren Weg nach vorn. Sie sah mit zusammengekniffenen Augen von Lucy zu Olivia. Als ihre Anhängerinnen Katie und Allison hinter ihr auftauchten, nickte sie bedeutungsvoll. »Das erklärt einiges«, sagte Charlotte zu ihren Freundinnen, als könnten Lucy und Olivia es nicht hören, obwohl sie nur anderthalb Meter entfernt standen. Dann setzte Charlotte ein unecht freundliches Gesicht auf. »Keine Sorge, Olivia«, erklärte sie laut. »Das Cheerleading-Team wird immer hinter dir
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