Lucy Sullivan wird heiraten
gewußt. Ich hatte mit den Zügen kommuniziert, war fast mit dem U-Bahn-System verschmolzen gewesen, so daß Mensch und Maschine in vollkommenem Einklang miteinander und synchron funktionierten.
Die Zeiten waren jetzt vorbei. Zwar war ich auch früher immer zu spät zur Arbeit gekommen, aber ich hätte pünktlich sein können, wenn mir der Sinn danach gestanden hätte. Jetzt aber blieb mir keine Wahl. Hilflos war ich der Londoner U-Bahn und ihren verschiedenen Verzögerungsmechanismen ausgeliefert: Laub auf den Gleisen, Leichen auf den Gleisen, Signalausfall, ein Fahrgast hatte seine Käsebrote im Zug liegenlassen und damit einen Bombenalarm ausgelöst.
Ich mußte schrecklich früh aufstehen, und bevor ich die erste Woche hinter mir hatte, merkte ich, daß mein Vater ein kleines Problem hatte, so daß ich künftig noch früher würde aufstehen müssen.
Im Büro machte ich mir den ganzen Tag Sorgen um ihn, weil mir bald klar wurde, daß man ihn nicht lange allein lassen konnte. Sich um ihn kümmern war genauso wie sich um ein Kleinkind kümmern. Wie ein Kind kannte er keine Furcht, hatte kein Gespür für die Folgen seines Tuns. Er fand nichts dabei, auf die Straße zu gehen und die Haustür offenzulassen. Nicht einfach unverschlossen, sondern sperrangelweit offen. Zwar gab es in unserem Haus nicht viel zu stehlen, aber trotzdem.
Gleich nach Feierabend hetzte ich nach Hause. Alles mögliche hätte passieren können. Fast jeden Tag gab es irgendeine Art von Krise. Ich wußte schon nicht mehr, wie oft er eingeschlafen war, während das Badewasser einlief, der Gashahn aufgedreht war, ein brodelnder Topf vergessen auf dem Herd stand oder eine Zigarette sich allmählich ihren Weg durch das Kissen brannte, auf dem er saß.
Oft kam ich völlig erledigt von der Arbeit nach Hause und sah, wie heißes Wasser durch die Decke in der Küche tropfte, oder es roch verbrannt, und auf dem Herd stand ein durchgebrannter Kochtopf mit verkohltem Inhalt, während Dad selig in seinem Sessel schlummerte.
Abends auszugehen kam für mich nicht mehr in Frage. Ich hatte gedacht, es werde mir nichts ausmachen, doch ich merkte beschämt, daß es nicht so war.
Dadurch, daß ich abends früh zu Hause war, bekam ich aber keineswegs automatisch viel Schlaf, denn gewöhnlich weckte mich Dad mitten in der Nacht, und ich mußte aufstehen, um ihm zu helfen.
In meiner ersten Nacht im Haus meiner Eltern näßte Dad ins Bett. Der Kummer, den mir das bereitete, trieb mich fast in den Wahnsinn.
Ich ertrage das nicht, ich ertrage das nicht, dachte ich verzweifelt. Bitte, lieber Gott, hilf mir, diese Qual zu überstehen.
Mit anzusehen, wie mein Vater seiner Würde beraubt war, ging fast über meine Kräfte.
Er weckte mich gegen drei Uhr morgens, um mich über die Situation in Kenntnis zu setzen. »Tut mir leid, Lucy«, sagte er und sah beschämt drein. »Tut mir wirklich leid.«
»Ist schon in Ordnung«, beruhigte ich ihn. »Es braucht dir nicht leid zu tun.«
Ein kurzer Blick auf sein Bett zeigte mir, daß er dort keinesfalls weiterschlafen konnte.
»Geh doch ins Zimmer von den Jungs. Ich bring dein Bett, äh, das da, in Ordnung«, schlug ich vor.
»Ist gut«, sagte er. »Und du bist auch nicht wütend auf mich?« fragte er geknickt.
»Warum sollte ich auf dich wütend sein?« rief ich.
»Und kommst du mir gute Nacht sagen?«
»Natürlich.«
Also legte er sich in Chris’ Bett, zog sich die Decke bis ans Kinn, sein mit weißen Stoppeln bedecktes, faltiges Altmännerkinn. Während ich ihm die Büschel seines grauen Haares glattstrich und ihn auf die Stirn küßte, erfüllte mich ein unbändiger Stolz, wie gut ich mich um ihn kümmerte. Niemand würde sich je so gut um jemanden kümmern wie ich mich um meinen Vater.
Als er wieder einschlief, zog ich sein Bett ab und legte die Laken beiseite, um sie am nächsten Morgen in den Waschsalon zu bringen. Dann ging ich mit einer Schüssel heißem Seifenwasser, in das ich Desinfektionsmittel geschüttet hatte, daran, die Matratze abzuschrubben.
Das einzige, was mir an der ganzen Geschichte Sorgen machte, war, daß Dad am nächsten Morgen verwirrt und verängstigt aufwachte. Er wußte nicht, wie er in Chris’ Bett gekommen war, weil er sich nicht an den nächtlichen Vorfall erinnern konnte.
Anfangs hatte ich angenommen, das Bettnässen in der ersten Nacht, in der ich wieder zu Hause war, habe mit seiner Aufregung zu tun und sei ein Einzelfall. Aber so war es nicht. Es passierte Nacht für
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