Lucy Sullivan wird heiraten
»gebt ihm auf jeden Fall meine Nummer.«
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D as Leben mit Dad war nicht so, wie ich es mir vorgestellt hatte.
Ich war davon ausgegangen, daß wir dasselbe wollten: ich würde mein Leben seinem Glück und der Sorge für ihn widmen, er seinerseits würde es mir dadurch danken, daß er sich umsorgen ließ und glücklich war.
Aber irgend etwas war schief gelaufen, denn ich machte ihn nicht glücklich. Er schien auch gar nicht glücklich sein zu wollen.
Unaufhörlich weinte er, ohne daß ich verstand, warum. Ich dachte, er müßte sich freuen, meine Mutter los zu sein. Schließlich ging es ihm mit mir viel besser als mit ihr.
Mir fehlte sie nicht, und so begriff ich nicht, warum sie ihm fehlte. Ich quoll über vor Liebe und Fürsorge für ihn und war durchaus bereit, alles für ihn zu tun: ihm meine Zeit zu widmen, ihn zu verwöhnen, für ihn zu kochen, heranzuschaffen, was er wollte oder brauchte. Nur wollte ich mir nicht anhören müssen, wie sehr er sie geliebt hatte. Ich wollte mich nur dann um ihn kümmern, wenn er bereit war, darüber glücklich zu sein.
»Kann sein, sie kommt wieder«, wurde er nicht müde zu sagen.
»Kann sein«, murmelte ich und dachte dabei, was hat er nur ?
Zum Glück unternahm er nichts, um sie zurückzuholen. Weder lieferte er ein Schauspiel der Leidenschaft, indem er sich beispielsweise vor Kens gelbes Haus stellte und ihm mitten in der Nacht so laut Schmähungen zurief, daß die Nachbarn davon wach wurden, noch sprühte er mit grüner Leuchtfarbe »Ehebrecher« an Kens Haustür oder leerte die Mülltonnen der Nachbarschaft auf dessen Auffahrt aus, so daß Ken morgens, wenn er sich zu einem schweren Tag in der Reinigung aufmachte, bis zu den Knöcheln in Kartoffelschalen und verrosteten Konservendosen watete. Er ging auch nicht mit einem Schild vor der Reinigung auf und ab, auf dem stand: »Bringen Sie Ihre Hemden hier nicht hin. Der Mann da drin hat mir die Frau ausgespannt.«
Auch wenn ich seine Seelenqual nicht verstand, bemühte ich mich doch, sie zu lindern. Doch konnte ich ihm lediglich Essen und Trinken aufnötigen und ihn wie einen genesenden Invaliden behandeln, ihn an die (wenigen) Annehmlichkeiten und Ablenkungen erinnern, die unser Haus zu bieten hatte. Beispielsweise fragte ich ihn freundlich, ob er fernsehen wolle. Fußball? Eine Seifenoper? Oder ich schlug ihm vor, er könne sich ausruhen. Bett und Fernseher waren ungefähr alles, was unser Haus an Erholungsmöglichkeiten bot.
Er aß kaum etwas, ganz gleich, wie sehr ich ihn dazu drängte. Ich übrigens auch nicht. Nur wußte ich, daß mir das nicht schaden würde, bei ihm aber fürchtete ich, es sei der Anfang vom Ende.
Schon bevor die erste Woche um war, war ich erschöpft. Ich hatte geglaubt, meine Liebe zu ihm werde mir grenzenlose Energien verleihen, ich würde mich um so besser fühlen, je mehr er von mir verlangte, ich würde um so mehr für ihn tun wollen, je mehr ich für ihn tat.
Ich gab mir zuviel Mühe, ihm alles recht zu machen, und das kostete schrecklich viel Kraft.
Besorgt beobachtete ich ihn, las ihm jedes Bedürfnis von den Augen ab und tat sogar Dinge für ihn, von denen er sagte, sie seien nicht nötig.
Irgendwann stellte ich also überrascht fest, daß ich erschöpft war. Schon die praktischen Aufgaben des Alltags forderten ihren Tribut. Beispielsweise kostete mich allein die Fahrt zur Arbeit jeden Morgen mindestens eineinhalb Stunden. Der halbstündige Weg von Ladbroke Grove aus, wo ich jederzeit eine U-Bahn, einen Bus oder ein Taxi bekommen konnte, hatte mich verweichlicht.
Ich hatte vergessen, wie es ist, wenn man aus den Vororten in die Stadt pendelt, wo die Züge nicht sehr oft fuhren und man zwanzig Minuten auf den nächsten Zug warten mußte, wenn man einen verpaßte.
Früher einmal war ich Meisterin in der alten Kunst des Pendelns gewesen, hatte aber zu lange in der Stadtmitte gelebt und dabei viele meiner Fertigkeiten verlernt. Ich hatte vergessen, wie man die Nase in die Luft hält und mit einem Blick zum Himmel (und der elektronischen Anzeigetafel) erkennt, daß der Zug in etwa einer Minute abfährt und keine Zeit mehr bleibt, eine Zeitung zu kaufen. Ich spürte nicht mehr die Schwingungen, die von der Menschenmenge auf einem überfüllten Bahnsteig ausgehen, merkte nicht mehr, daß drei Züge hintereinander ausgefallen waren und ich mich sofort in die erste Reihe drängen mußte, sollte ich mit dem nächsten Zug mitkommen wollen.
Solche Sachen hatte ich früher instinktiv
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