Lucy Sullivan wird heiraten
überzeugt gewesen war, an jeder Krankheit zu leiden, von der er las. Fast täglich war Mum mit ihm in die Sprechstunde gegangen, während sich der junge Hypochonder durch das Alphabet der Krankheiten voranarbeitete und nacheinander Symptome von Agoraphobie, Akne, Alzheimer, Angina, Angstzuständen und Anthrax entwickelte, bis ihn jemand auffliegen ließ. Nicht einmal die Akne war echt gewesen, wohl aber waren es die Angstzustände, die er hatte, nachdem ihn sich Mum ordentlich vorgenommen hatte.
Im Wartezimmer ging es zu wie am Tag des Jüngsten Gerichts. Bis zu den Deckenbalken (bildlich gesprochen, denn Dr. Thornton praktizierte in einem Container) war es mit sich prügelnden Kindern, kreischenden Müttern und schwindsüchtigen Greisen angefüllt.
Als ich schließlich zur Audienz bei Seiner Heilungkeit vorgelassen wurde, hing er erschöpft und schlecht gelaunt über seinem Schreibtisch. Der Kuli verharrte über dem Rezeptblock in der Luft.
»Was kann ich für Sie tun?« fragte er kraftlos. Mir war klar, daß er eigentlich meinte: »Ich kenne Sie – Sie sind Lucy, eine von den verrückten Sullivans. Also los. Wohl mal wieder durchgeknallt?«
»Es geht nicht um mich«, begann ich zögernd. Sogleich erwachte sein Interesse.
»Eine Bekannte?« fragte er hoffnungsvoll.
»Gewissermaßen«, stimmte ich zu.
»Sie vermutet, daß sie schwanger ist?« fragte er.
»Nein...«
»Sie hat sonderbaren Ausfluß?« unterbrach er mich begierig.
»Eigentlich ist es nichts dergleichen...«
»Eine besonders schlimme Periode?«
»Nein...«
»Einen Knoten in der Brust?«
»Nein«, sagte ich und hätte fast herausgelacht. »Es geht wirklich nicht um mich, sondern um meinen Vater.«
»Ach der«, sagte er ärgerlich. »Und warum kommt er dann nicht selbst? Man kann nicht einfach jemand anders schicken. Ich stell keine virtuellen Diagnosen.«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Ich hab es bis hier«, platzte es aus ihm heraus. »Alle haben es heute mit Handys, Internets, Computerspielen und Flugsimulatoren. Keiner von euch will was Wirkliches machen.«
»Äh...« sagte ich unsicher, denn ich wußte nicht, wie ich auf diesen Ausbruch von Maschinenstürmerei reagieren sollte. Er war seit unserer letzten Begegnung eher noch exzentrischer geworden.
»Alle sind der Ansicht, sie brauchen nichts zu tun«, fuhr er mit lauter Stimme und gerötetem Gesicht fort. »Jeder kann mit seinem Modem und seinem PC einfach zu Hause hocken und glauben, er lebt. Keiner ist der Ansicht, daß er seinen faulen Hintern heben muß, um mit anderen Menschen Kontakt aufzunehmen. Ihr schickt mir einfach eure Symptome mit E-Mail zu, was?« Arzt, heile dich selbst! Dr. Thornton schien kurz vor dem Zusammenbruch zu stehen.
Der kämpferische Anfall hörte ebenso plötzlich wieder auf, wie er begonnen hatte.
»Nun, was ist mit Ihrem Vater?« fragte er seufzend und lag wieder teilnahmslos über dem Tisch.
»Es ist ein bißchen peinlich«, sagte ich unbehaglich.
»Warum?«
»Nun, er glaubt, daß ihm nichts fehlt...« Ich begann mich voll Feingefühl durch die komplizierte Geschichte voranzuarbeiten.
»Wenn das so ist, fehlt eben Ihnen was«, sagte Dr. Thornton unverblümt.
»Nein, Augenblick, Sie verstehen nicht...«
»Ich verstehe durchaus«, fiel er mir ins Wort. »Jamsie Sullivan fehlt nichts. Wenn er aufhören würde zu saufen, würde es ihm blendend gehen. Na ja, vielleicht auch nicht«, fügte er hinzu, als spräche er mit sich selbst. »Gott allein weiß, wie seine Leber mittlerweile aussieht. Wahrscheinlich ist sie sechseckig.«
»Aber...«
»Lucy, Sie stehlen mir die Zeit. Mein Wartezimmer ist voll von Leuten, die wirklich krank sind und um die ich mich kümmern muß. Statt dessen belästigen mich die weiblichen Angehörigen des Hauses Sullivan und verlangen von mir, daß ich einen Mann heile, der beschlossen hat, sich unter die Erde zu saufen.«
»Was meinen Sie mit den weiblichen Angehörigen des Hauses Sullivan?« fragte ich.
»Sie und Ihre Mutter. Ihre Mutter ist sozusagen ein Einrichtungsgegenstand meiner Praxis.«
»Tatsächlich?« entfuhr es mir überrascht.
»Jetzt, wo ich mit Ihnen darüber spreche, fällt mir auf, daß sie eine ganze Weile nicht hier war. Wahrscheinlich hat sie Sie geschickt?«
»Äh, nein...«
»Warum nicht?« fragte er. »Was ist los?«
»Sie hat Dad verlassen«, sagte ich. Ich erwartete ein wenig Zuwendung, statt dessen aber gab er eine Art Gelächter von sich. Er verhielt sich wirklich sonderbar.
»Ist
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