Lucy Sullivan wird heiraten
Mit einem Mal verstand ich, warum es in der Trauformel heißt: »Bis daß die Not uns scheidet.« Nur daß ich nicht mit Dad verheiratet war.
Geld mit leichter Hand auszugeben, wenn ich genug davon hatte, war ein Kinderspiel. Ich hätte mir nie träumen lassen, daß ich meinem Vater etwas mißgönnen würde. Immer war ich überzeugt gewesen, ich würde ihm sogar noch mein eigenes nabelfreies Lycrahemd schenken.
Aber es stimmte nicht. In dem Maße, wie das Geld knapp wurde, ärgerte es mich, wenn ich ihm noch etwas davon geben sollte. Es ärgerte mich, daß er mich jeden Morgen fragte, bevor ich mich zur Arbeit schleppte: »Lucy, mein Kind, könntest du mir ’n paar Pfund auf dem Tisch liegenlassen? Vielleicht ’nen Zehner, wenn du ihn übrig hast.«
Mich ärgerten die Sorgen. Es verstimmte mich, die Bank um einen Überziehungskredit bitten zu müssen. Es verstimmte mich, daß ich kein Geld für mich selbst hatte.
Und ich haßte die Auswirkungen, die das Ganze auf mich hatte: die Kleinlichkeit, mit der ich ihm jeden Bissen in den Mund zählte, aber auch jeden Bissen, den er nicht aß. Wenn ich mir schon die Mühe mach, für ihn was zu essen zu kaufen und zu kochen, könnte er es zumindest essen, dachte ich gereizt.
Dad bekam alle zwei Wochen Arbeitslosengeld, aber wo das blieb, erfuhr ich nicht. Den Haushalt bestritt ich ausschließlich von meinem Gehalt.
Könnte er nicht wenigstens mal ’ne Flasche Milch kaufen? dachte ich bisweilen in ohnmächtiger Wut.
Ich wurde immer isolierter. Von den Arbeitskollegen abgesehen war ich immer nur mit meinem Vater zusammen.
Nie ging ich mit Leuten aus, die ich von früher kannte. Dafür hatte ich keine Zeit, denn ich mußte unbedingt sofort nach Feierabend heimfahren. Immer wieder versprachen Karen und Charlotte, sie würden mich besuchen kommen, und es klang, als sprächen sie von einer Reise ins Ausland. Andererseits war es mir ganz recht, daß sie nicht kamen – ich hielt mich nicht für fähig, zwei Stunden am Stück so zu tun, als wäre ich glücklich.
Gus fehlte mir entsetzlich. Ich malte mir aus, wie er käme, um mich zu retten. Aber solange ich in Uxbridge lebte, bestand nicht die geringste Aussicht, zufällig über ihn zu stolpern.
Als einzigen Menschen aus meinem früheren Leben sah ich ab und zu Daniel, der von Zeit zu Zeit »vorbeischaute«. Das aber war mir ausgesprochen zuwider. Jedesmal, wenn ich ihm die Tür aufmachte, fiel mir als erstes auf, wie breitschultrig, betörend und verlockend er aussah. Dann mußte ich an den Abend denken, an dem ich mich ihm praktisch an den Hals geworfen und er sich praktisch geweigert hatte, mit mir ins Bett zu gehen. Noch immer brannte die Scham in mir, wenn ich nur daran dachte.
Als genügte das nicht, stellte er jedesmal peinliche Fragen. »Warum bist du nur immer so müde?« und »Gehst du schon wieder zum Waschsalon?« und »Warum sind eure Kochtöpfe alle so verbrannt?«
»Kann ich dir mit irgendwas helfen?« fragte er immer wieder. Aber mein Stolz hinderte mich, zu bekennen, wie schlimm es um Dad stand, und so sagte ich einfach: »Hau ab, Daniel. Du kannst hier nichts tun.«
Meine finanzielle Lage wurde immer schwieriger. Es wäre ein Gebot der Vernunft gewesen, meine Wohnung in Ladbroke Grove zu kündigen. Was hatte ich schon davon, daß ich Miete für eine Wohnung zahlte, in die ich nie einen Fuß setzte? Aber auf einmal merkte ich, daß mir allein die Vorstellung, sie aufzugeben, eine Heidenangst einjagte. Sie war das letzte Bindeglied zu meinem alten Leben. Wenn ich sie aufgäbe, wäre das ein Zeichen, daß ich nie zurückkehren würde und für alle Zeiten in Uxbridge festsaß.
70
S chließlich suchte ich aus lauter Verzweiflung Dr. Thornton auf, unseren Hausarzt, der mir vor vielen Jahren Mittel gegen meine Depression verschrieben hatte.
Als Grund schob ich vor, daß ich mir bei ihm Rat wegen Dads Bettnässen holen wollte, in Wirklichkeit aber war es nichts anderes als ein schlichter altmodischer Hilferuf. Von ihm hoffte ich zu hören, daß die Dinge nicht so waren, wie ich sie sah.
Ich ging nicht gern zu Dr. Thornton, teils, weil er ein verschrobener Alter war, den man schon vor Jahren hätte in Pension schicken sollen, teils, weil er, soweit ich wußte, unsere gesamte Familie für total verrückt hielt. Er hatte nicht nur mit mir und meiner Depression zu tun gehabt, sondern auch mit meinem Bruder Peter. Dem war mit fünfzehn ein medizinisches Lehrbuch in die Hände gefallen, woraufhin er fest
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