Lucy Sullivan wird heiraten
Meistens aber war schon am selben Abend nichts mehr davon da.
Der Abwechslung halber spielten wir statt ›Gasexplosion‹ manchmal ›Erdbeben‹. Wir stellten uns vor, ein Erdbeben hätte sein Epizentrum in unserer Wohnung, wobei wir immer streng darauf achteten, niemandem als uns selbst Tod oder Zerstörung zu wünschen. Genau gesagt wollten wir eigentlich nur, daß der Weg aus unserer Wohnung verwüstet war. Fernseher, Illustrierte, Betten, Sofas und Lebensmittel würden wunderbarerweise verschont bleiben.
Manchmal wünschten wir, uns ein Bein oder beide zu brechen, weil die Vorstellung verlockend war, mehrere Wochen ohne Unterbrechung liegenbleiben zu dürfen. Aber vorigen Winter hatte sich Charlotte in ihrem Flamenco-Kurs den kleinen Zeh gebrochen (so lautete die offizielle Version, in Wahrheit war sie angesäuselt über einen Couchtisch gesprungen) und fand die Schmerzen unerträglich. Seitdem wünschten wir uns keine gebrochenen Knochen mehr, ab und zu vielleicht einen Blinddarmdurchbruch.
»Schön«, sagte Karen entschlossen. »Ich geh zur Arbeit. Schweinekerle, die«, fügte sie hinzu.
Sie ging, und Charlotte kam.
»Lucy, ich bring dir ’ne Tasse Kaffee.«
»Lieb von dir, äh, danke«, sagte ich brummig und setzte mich mühevoll auf.
In ihrer Büroaufmachung und ohne Make-up wirkte Charlotte, als wäre sie ungefähr zwölf. Nur ihr monumentaler Busen verriet sie.
»Beeil dich«, sagte sie, »dann können wir miteinander zur U-Bahn gehen. Ich muß mit dir reden.«
»Worüber?« fragte ich mißtrauisch und überlegte, ob es um die Vor- und Nachteile der ›Pille danach‹ gehen würde.
»Weißt du«, sagte sie kläglich, »ich hab gestern mit Simon geschlafen. Findest du es sehr schlimm, daß ich es an einem Wochenende mit zwei Männern getrieben hab?«
»Aber wieso denn...« sagte ich beruhigend.
»Doch, ich weiß, daß es schlimm ist, aber ich wollte es auch gar nicht«, sagte sie eifrig. »Das heißt, ich wollte es schon, als ich es tat, aber ich hatte es mir nicht vorgenommen. Woher sollte ich am Freitagabend wissen, daß ich am nächsten Tag Simon kennenlernen würde?«
»Eben«, stimmte ich mit Nachdruck zu.
»Es ist entsetzlich, Lucy. Dauernd verstoß ich gegen meine eigenen Regeln«, sagte die arme Charlotte und war begierig, sich zu kasteien. »Ich hab mir immer wieder gesagt, daß ich nie, wirklich nie, am ersten Abend mit jemand ins Bett gehen würde. Mit Simon hab ich das auch nicht gemacht, denn es war ja erst am nächsten Nachmittag. Eigentlich war es sogar schon Abend. Nach sechs.«
»Dann ist es doch in Ordnung«, sagte ich.
»Und es war phantastisch«, fügte sie hinzu.
»Na bitte«, sagte ich ermutigend.
»Aber der andere Kerl, der von Freitagabend – ist das nicht schrecklich? Ich weiß nicht mal mehr, wie der hieß. Überleg doch nur! Gott, wie peinlich! Da laß ich jemand meinen Hintern sehen und kann mich nicht mal an seinen Namen erinnern. Derek, ich glaub, er hieß Derek«, sagte sie mit vor Konzentration angespanntem Gesicht. »Du hast ihn doch auch gesehen – sah er aus, als ob er Derek heißen könnte?«
»Mach dir doch keine Vorwürfe. Wenn du seinen Namen nicht mehr weißt, kannst du dich auch nicht an ihn erinnern. Spielt das denn überhaupt eine Rolle?«
»Eigentlich nicht«, sagte sie aufgeregt. »Natürlich nicht. Er hätte auch Geoff heißen können. Oder Alex. O Gott! Vorwärts, stehst du jetzt auf?«
»Ja.«
»Soll ich dir was bügeln?«
»Ja, bitte .«
»Was?«
»Irgendwas.«
Sie ging, um das Bügeleisen zu holen, und ich wuchtete mich mühsam auf die Bettkante. Charlotte rief mir aus der Küche etwas zu – sie hatte irgendwo von einer in Japan entwickelten Operation gelesen, bei der man einer Frau den Hymen wieder einnähen kann, so daß sie wieder Jungfrau ist, und sie wollte wissen, ob sie sich das meiner Ansicht nach machen lassen sollte.
Arme Charlotte. Wir Armen überhaupt. Die sexuelle Befreiung war äußerst angenehm, und wir waren alle außerordentlich dankbar, weil man sie uns (wenn auch nur zögernd) in einer wunderschönen Geschenkverpackung überreicht hatte. Aber welche alte Großtante, die von nichts eine Ahnung hatte, schenkte uns eigentlich die handgehäkelten, dazu passenden Päckchen von Schuldgefühlen? Der würden wir jedenfalls bestimmt keine Karte mit »Vielen Dank« drauf schicken.
Es war, als bekäme man ein schönes, kurzes, enganliegendes, ungeheuer aufregendes, glänzendes rotes Kleid geschenkt, unter der
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