Lucy
konnte Lucys lindgrünes Abendkleid für den Abschlussball sehen. Slips, BHs und Bustiers lagen auf dem Schrankboden verstreut. Neben Schuhen aller Art. Die Mädchen hatten sie immer damit aufgezogen, dass sie wohl einen Gendefekt haben müsse, da ihr das Schuhgen fehle. Jenny barg ihr Gesicht in Amandas rotem Abendkleid und sog den Geruch ein, der sie an Ebbe und Flut ihrer eigenen Freuden und Tränen erinnerte. Wer hatte das gesagt? Andere Stimmen, die schon vor langer Zeit verstummt waren. Matthew Arnold. Die trüben Gezeiten des menschlichen Kummers.
Sie drehte sich um und sah im Spiegel der Frisierkommode Amandas Haarbürste. Mit ein paar Schritten durchquerte sie das Zimmer und nahm sie zur Hand. Es steckten noch Haare von Amanda darin. Vorsichtig, damit es nicht riss, zog Jenny ein langes Haar aus den Borsten und hielt es ins Licht. Es war dunkel und gewellt und schimmerte rötlich braun im Sonnenlicht. Oh, Amanda. Liebe Amanda.
|411| Jenny tat das Haar wieder in die Bürste, damit es nicht verloren ging. Doch noch während sie es tat, fand sie es selbst seltsam. Was wollte sie mit dem Haar, mit der Bürste und mit all den anderen Dingen machen? Sie wollte ihr Leben nicht in ein Museum verwandeln. Die Erinnerung war schon Museum genug.
Dann ging sie hinunter in ihr Arbeitszimmer, um ein paar Unterlagen zu holen, die sie zu Harry mitnehmen wollte. Ihr Blick fiel auf den Weidenkorb neben ihrem Schreibtisch, in dem all die Fotos lagen, die sie aufgenommen hatten. Jenny griff nach einem Packen und setzte sich damit. Amanda und Lucy planschend in einem See in Boundary Waters. Sie alle drei in der Garderobe irgendeines Fernsehstudios. Eine andere Bilderfolge zeigte Amanda mit Matt und Lucy mit Wes am Abend des Abschlussballs. Dann Jenny selbst mit Harry, Lucy und Amanda, wie sie Jennys Mutter zum neuen Jahr zuprosteten. Es war ihr einziger gemeinsamer Silvesterabend. Lucy trug einen silbernen Partyhut und lachte ausgelassen über Harrys schlechte Witze. »Wie viele Posaunisten braucht man, um eine Glühbirne einzuschrauben?«, hatte er sie gefragt.
»Keine Ahnung«, erwiderte Lucy. »Wie viele?«
»Fünf. Einer hält die Glühbirne und die anderen saufen, bis das Zimmer sich dreht.«
»Oh, Harry«, stöhnte Jenny. »Das ist ja so lahm.« Doch Lucy lachte und lachte.
»Ermuntere ihn nicht auch noch«, sagte Amanda.
Jennys Tränen tropften auf das Foto in ihrer Hand, und sie legte sie alle zurück in den Weidenkorb. Dafür war sie noch nicht bereit, dachte sie und musste an Luke Randall denken, der ein Leben lang vor seiner Trauer geflohen war. Wenn das Leben ein Museum der Erinnerungen ist, wie soll man dann leben, wenn man es nicht aushält, dieses Museum zu |412| besuchen? Jenny erkannte, dass sie die Mädchen nie ganz loslassen würde. Ihre Mädchen. Ihre Töchter. Sie lebten in ihr. Sie konnte dieses Haus nicht länger bewohnen.
Das Telefon klingelte, und sie sah auf das Display. Es war die Nummer des Krankenhauses. Sie sah Harry vor sich, wie er mit zerzausten Haaren im Arztkittel vor dem Computer im Schwesternzimmer saß, und nahm ab.
»Hallo, Harry. Ich glaube, ich kann das nicht.«
»Na ja, du hast es versucht. Mehr kannst du nicht tun. Fahr wieder zu mir, okay? Ich muss noch operieren, bin aber zum Abendessen zu Hause.«
»Aber was ist mit all den Sachen?« Es ging nicht um die Sachen, das wusste sie. Es ging um die Geister.
»Ich werde dir helfen. Wir machen es zusammen. Quäl dich nicht. Fahr jetzt einfach zu mir und denk an Seezunge in Zitronenkruste mit einem guten Pinot. Robert Parker sagt, dass eine leichte Essenz von Eichenholzrauch und Rosmarin die aromatische Fruchtnote im Abgang erst so richtig zur Geltung bringt.« Jenny musste lachen, zum ersten Mal an diesen Tag.
Während der Wintermonate räumten sie zu zweit das Haus aus und brachten Jennys Sachen zu Harry. Eine Menge warfen sie auch weg. An einem kalten verschneiten Abend, als die Arbeit fast beendet war, saßen sie jeder mit einer Portion Spinatlasagne von Piero’s auf dem Fußboden und sahen zu, wie Jennys letzte Holzscheite im Kamin verbrannten. Als es langsam wieder wärmer wurde, machten sie einen Ausverkauf der restlichen Dinge und stellten Klapptische draußen vor dem Haus auf. Die Möbelstücke, Küchengeräte und Lampen gingen schnell weg. Bei Kleidung und CDs waren die Leute wählerischer. Am Spätnachmittag, als das Licht schon schräg durch die Zweige des Ahornbaums fiel, fragte ein schüchtern |413| wirkendes
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