Lucy
angekommen waren, so als wäre es ein ganz normaler Tag. Er nahm einen Behälter mit vegetarischem Chili heraus und machte es warm. Dann setzten sie sich an den Tisch, aßen zu Abend und starteten den Versuch, ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen.
Amanda war von ihrer Mutter beerdigt worden, während Harry und Jenny noch unterwegs gewesen waren. Jenny war der Ansicht gewesen, dass es besser war, wenn sie nicht an der Beerdigung teilnahm. Sie hatte das Gefühl, dass Amandas Mutter ihr fast genauso viele Vorwürfe machen würde wie Jenny sich selbst. Wie hätte sie ihr in die Augen sehen sollen?
Binnen einer Woche nach ihrer Rückkehr gab die Polizei die Identität des Mannes bekannt, der des Mordes an Amanda verdächtigt wurde. Als das Gesicht des Verdächtigen auf dem Bildschirm erschien, stellte Jenny fest, dass sie ihn tatsächlich schon einmal gesehen hatte: auf dem Flughafen und bei mehr als einer Gelegenheit unter den Demonstranten, die Lucy verteufelten. Es war der unheimlich wirkende junge Mann mit Bürstenhaarschnitt und lang herabhängendem Schnauzbart, dessen Arme von Tattoos bedeckt waren. Er war es, den die Mädchen ein Schild mit dem Wort »Euthanasie« und der Zahl 14 hatten hochhalten sehen. Während Jenny und Harry dasaßen und die Nachrichten ansahen, sagte Harry plötzlich: »Schwachsinn.«
»Was? Wie meinst du das?«, fragte Jenny.
»Woher hätte dieser Loser wissen sollen, dass ihr auf der Ranch der Randalls wart? Nicht mal ich wusste das.«
»Willst du damit sagen, dass er gar nicht Amandas Mörder ist – oder dass ihm jemand erzählt hat, wo wir waren?«
Harry erwiderte nichts.
|408| In den kommenden Wochen lehnte Jenny alle Anfragen nach Interviews ab und vermied es, die Nachrichten anzusehen. Der Verdächtige war tot. Die Munition des Gewehrs, das bei seiner Leiche gefunden wurde, entsprach der, mit der Amanda erschossen worden war. Damit war der Fall für die Polizei abgeschlossen. Die Regierung ließ verlauten, dass auch sie nicht wisse, wo sich das unter dem Namen Lucy Lowe bekannte Hybridwesen derzeit aufhalte. Der Presse fiel es immer schwerer, der Geschichte der Lucy Lowe neue Aspekte abzugewinnen. So rutschte sie weiter und weiter nach hinten in den aktuellen Nachrichten und verschwand schließlich ganz. Und die Leute taten, was sie immer taten. Sie begannen zu vergessen.
|409| 52
Es war zehn Uhr morgens an einem kalten sonnigen Tag. Jenny stand in ihrer Küche und sah, wie die teuren Stahlgerätschaften, die noch ihre Mutter angeschafft hatte, im Sonnenschein vor sich hinglänzten. Das hat so überhaupt gar nichts mit mir zu tun, dachte Jenny, und sofort schoss ihr ein weiterer Gedanke durch den Kopf: Da spricht Amanda. Ich habe Amandas Stimme in mir. Amanda und Lucy. Aus ihrer wissenschaftlichen Lektüre wusste sie: Wenn man in Gedanken die Worte eines anderen sagte, bewegten sich die eigenen Stimmbänder genau so wie die Stimmbänder des anderen, als er diese Worte sagte, eine Bewegung so einzigartig wie ein Fingerabdruck. Auf diese Weise halten einen die, die man liebt, an den Fäden wie eine Marionette, sogar noch vom Grab aus.
Als sie von der Küche in den Hausflur ging, konnte Jenny die beiden Mädchen hören. Von der Haustür aus sah sie die Treppe, die zu ihrem Zimmer hinaufführte. Sie konnte sie kichern und in ihrer ganz eigenen Weise miteinander reden hören. An einem kalten Winterabend hatte Lucy Amanda Spanisch beigebracht.
»›Flipado‹«, sprach Lucy vor.
»›Flipado‹«, wiederholte Amanda.
»Ja, wie ausflippen. Und ›tranquilo‹.«
»›Tranquilo‹. Was heißt das? Dasselbe wie auf Französisch ›tranquille‹?«
»Ja, ›chillen‹.«
»Wir sagen nicht ›chillen‹.«
|410| »Ach ja, wir sagen ja nie ›chillen‹.« Und sie brachen beide in Gelächter aus.
Jenny konnte ihr Lachen hören. Die Mädchen bewohnten das Haus jetzt wie Geister. Lucy hatte einmal gefragt, wohin die Stimme geht, wenn man stirbt, und nun glaubte Jenny es zu wissen: Sie geht ein in den Großen Strom. In die Stimmen und Gedanken jener, die einen lieben.
Sie blickte ins Wohnzimmer und musterte das Sofa, auf dem sie zu dritt gesessen und das Video angeschaut hatten, das alles veränderte. Den afrikanischen Teppich über dem Kamin: zwei Hyänen, die eine Gazelle bedrohten. Konnte sie hier jetzt noch bleiben? Konnte sie mit den Geistern der Mädchen leben?
Jenny ging nach oben und blieb in der Tür von Lucys Zimmer stehen. Der Schrank stand offen, und Jenny
Weitere Kostenlose Bücher