Lucy
dem Funkgerät, der Französisch sprach. Denis stand auf und bedeutete Jenny, dass sie sich nun setzen dürfe. Sie nahm das Mikrofon zur Hand.
»David? Spricht dort David Meece? Hier ist Jenny, over.«
»Mein Gott, Jenny. Ja, hier ist David. Geht’s dir gut, over?«
David Meece stammte aus einer Diplomatenfamilie, alter Geldadel aus London, und war einer von denen, die sogar in der Hitze Afrikas stets eine Fliege trugen. Jennys ältester Freund Harry Prenderville, ein Arzt, der einmal im Jahr nach Afrika kam und ehrenamtlich für Ärzte ohne Grenzen arbeitete, hatte sie mit David Meece bekannt gemacht, als sie zum ersten Mal auf den Schwarzen Kontinent kam. Und sie waren schnell Freunde geworden. David hatte Jenny schon mehr als einmal aus der Klemme geholfen.
»Sie haben Stone umgebracht. Die Lage hier ist völlig verworren. Ich habe seine Tochter bei mir. Wir sind mit ein paar Einheimischen flussabwärts gefahren, sitzen jetzt in einem Dorf und hoffen, dass du uns hier herausholen kannst, over.«
»Das kann ich auf jeden Fall.«
|22| »Gott sei Dank.«
»Kannst du mir die Koordinaten deines Standorts nennen, over?«
»Warte kurz, David.«
Jenny fragte den alten Mann auf Französisch, ob er den Längen- und Breitengrad seines Dorfes kenne. Er kramte eine Weile in einer Schreibtischschublade herum und zog schließlich ein mobiles GPS hervor. Jenny riss die Augen auf, drückte den Mikrofonknopf und sagte: »Moment noch, David, sie haben hier ein GP S-Gerät , ob du’s glaubst oder nicht, over.«
Jenny hörte, wie er lachte. »Mich überrascht so schnell nichts mehr«, erwiderte er.
Am nächsten Morgen hörten sie den Hubschrauber schon lange, bevor sie ihn sahen. Er kam dröhnend herangeflogen und kreiste ein paarmal über ihnen, ehe er auf einer nahe gelegenen Lichtung landete. Das ganze Dorf kam angerannt, um die Maschine in Augenschein zu nehmen. Vier Stunden später landeten sie auf dem Flughafen von Kinshasa. Und nach einer weiteren Stunde saßen sie in einem Büro der Botschaft und sahen zu, wie David Meece in aller Eile seine Sachen zusammenpackte.
»Die Rebellen sind nur noch ein paar Meilen von der Stadt entfernt. Wir haben ein Flugzeug, das uns nach London bringt. Ich kann dich natürlich mitnehmen, aber was ist mit dem Mädchen?«
»Ich habe die hier gefunden.« Jenny fischte die beiden Reisepässe aus ihrem schmutzigen Rucksack und reichte sie David. Er öffnete den einen Pass und legte ihn mit einem traurigen Kopfschütteln beiseite. Dann griff er nach dem anderen und betrachtete ihn stirnrunzelnd. Jenny sah über seine Schulter und verstand Davids Gesichtsausdruck: Der Reisepass war ausgestellt worden, als Lucy vier Monate alt war. David tippte |23| mit dem Finger darauf und murmelte: »Das Foto ist gar nicht das Problem … Kein Visum. Ist sie etwa seit vierzehn Jahren illegal im Land?«
»Ich weiß nicht. Lucy?«
»Ich verstehe nicht«, sagte Lucy.
»Hast du irgendwelche Familienangehörigen in England, die für dich bürgen können?«, fragte David.
»Nein, Sir.«
»Keinen einzigen? Wirklich nicht?«
»Ich bin im Dschungel aufgewachsen. Ich war nur einmal in London. Als Baby.«
»Wie ungewöhnlich.« David dachte eine Weile nach, dann sagte er: »Nun, im Augenblick müssen wir vor allem hier raus.«
Jenny sah das Mädchen an, so klug, so exotisch und selbst unter all dem Schmutz irgendwie vollkommen rein. Was sollte nur aus Donald Stones Tochter werden? Lucy wirkte, als stünde sie immer noch unter Schock.
»Ich höre Schüsse.«
»Sie hat ein unglaublich gutes Gehör«, sagte Jenny. »Wenn Lucy sagt, sie kommen, dann kommen sie.«
»Dann kommt mit. Schnell, schnell. Wir reden im Flugzeug über alles.«
Das Militärflugzeug wartete mit laufenden Motoren auf der Startbahn. Dutzende Diplomaten und Geschäftsleute hasteten die Laderampe hinauf. Als auch Jenny und David mit Lucy zwischen sich darauf zueilten, blieb das Mädchen plötzlich stehen. »Komm weiter, Lucy«, sagte Jenny. »Wir müssen uns jetzt beeilen.« Doch Lucy wurde ganz starr und stand mit weit aufgerissenen Augen da. »Was ist denn los, Lucy?«
»Ich bin noch nie in einem so großen Flugzeug geflogen. Nur als ich ein Baby war.«
|24| »Ich kann dir versichern, dass es absolut ungefährlich ist«, sagte David. »Jedenfalls ungefährlicher als hierzubleiben.«
Jenny nahm Lucy bei der Hand, doch Lucy entzog sie ihr und brach in Tränen aus. David griff in seine Aktentasche und holte ein Fläschchen mit
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