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Lucy

Lucy

Titel: Lucy Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laurence Gonzales
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Inmitten der Trümmer fand sie zwei Reisepässe und steckte auch diese ein. »Komm jetzt. Bitte. Ich kann dich doch nicht hier lassen.«
    Zögernd stand das Mädchen auf und zog sich Jeans und ein T-Shirt an, immer noch schluchzend und mit zitterndem Kinn. Jenny hob ein gerahmtes Foto auf, dessen Glas zerbrochen war, und steckte es in ihren eigenen Rucksack. Erneut zischte eine Granate durch die Luft und explodierte ganz in der Nähe. Das Mädchen lief zurück zu dem toten Bonobo und warf sich weinend über ihn.
    Jenny ergriff die schlaffe Hand des Mädchens, zog sie von |13| dem Tier weg und half ihr auf die Beine. »Es tut mir leid. Aber wir müssen an den Fluss gehen und versuchen, Hilfe zu finden.« Sie legte einen Arm um das Mädchen und schob sie Richtung Tür. »Kannst du sprechen?« Doch das Mädchen sagte nichts.
    Gemeinsam verließen sie die Hütte und rannten über die Lichtung. Dann liefen sie durch den Regenwald, der hier und dort von freien Flächen voller Blumen, Orchideen, Lobelien und Strelitzien, durchbrochen war. Sie flohen über ausgetretene Pfade und unter dem sich wölbenden Blätterdach der Lebensbäume, Mahagonibäume und Eichen hindurch. Feuchter Dunst hing in schweren Schwaden in der Luft. Auf einmal wurden die Kampfgeräusche lauter, und die beiden begannen zu rennen, so schnell sie konnten. Jenny konnte Geschützfeuer hören, Explosionen und auch Schreie. Gelegentlich erhaschte sie einen Blick auf den heller werdenden Himmel, und während die Sonne immer höher stieg, stieß der Urwald langsam seinen dunstigen Atem aus. Als die Kriegsgeräusche sich wieder entfernten, wurden sie langsamer. Doch sie liefen den ganzen Tag weiter, bis die Sonne unterzugehen begann und sie schließlich im Gelb des späten Tageslichts zu einer grasbewachsenen Lichtung kamen. Dort hockten sie sich auf den Boden und aßen ein kaltes Mahl aus Früchten und Nüssen. Jenny konnte zwar keine Schüsse mehr hören, hatte aber dennoch Angst, Feuer zu machen.
    »Ich bin Jenny. Jenny Lowe. Und wie heißt du?«
    Doch das Mädchen sah sie nur an mit diesem traurigen Blick wie aus einer anderen Welt. Plötzlich liefen ihr Tränen über die Wangen. Jenny legte ihr einen Arm um die Schulter, und das Mädchen lehnte sich an sie und weinte.
    »Schon okay. Du musst jetzt nichts sagen. Komm, wir schlafen erst mal ein wenig.«
    |14| Jenny wartete, bis das Schluchzen des Mädchens nachließ und sie gleichmäßig atmete. Dann legte sie ihren Kopf sanft ins Gras und deckte das Mädchen mit einem T-Shirt und einem Moskitonetz aus ihrem Rucksack zu. An einen Baum gelehnt saß sie selbst da und betrachtete das schlafende Mädchen. Sie hat wahrscheinlich einen Schock, dachte Jenny. Sie kann ja nicht mal sprechen. Jenny fragte sich, ob das Mädchen im Urwald aufgewachsen war. Wie ihr Leben in Zukunft wohl aussehen würde?
    Sie dachte an ihren längsten Besuch bei Donald Stone zurück. Das musste jetzt fünfzehn Jahre her sein. Damals servierte er ihr Tee und Kekse mit Marmelade, die ihm aus England geschickt worden waren. Stone besaß einen Stromgenerator und einen Plattenspieler, auf dem er alte Opernplatten abspielte. Sie führten eine sehr lebhafte Diskussion darüber, welche der uralten Vorfahren der Menschen denn nun der Sprache mächtig gewesen seien. »Erectus«, sagte er, »der Homo erectus hatte bestimmt schon eine Sprache. Ich meine, sehen Sie sich die Belege für die Elefantenjagden in Spanien an. Sicher, es könnte auch nur eine Art Zeichensprache gewesen sein, aber das bezweifle ich. Der Urwald ist schließlich voller Sprachen. Hören Sie doch nur.« Er hielt inne und machte eine theatralische, weit ausholende Armbewegung. Das Camp war umschlossen von der undurchdringlichen Finsternis des Urwalds. Jenny lauschte auf die Geräusche des Dschungels, die zwischen den Bäumen widerhallten. »Sehen Sie«, sagte Stone. »Eine einzige Flut von Informationen, ein endloser Strom. Es ist der Große Strom. Der Große Strom, verstehen Sie? Alles spricht, sogar die Bäume.«
    Sie hatte Donald Stone gemocht, seinen scharfen Verstand und seine schnelle Auffassungsgabe. Doch es hatte sie irritiert, dass er so gar nichts mit ihr zu tun haben wollte, der |15| einzigen anderen Forscherin im Umkreis von eintausend Kilometern. Während sie in der Dunkelheit vor sich hin grübelte, schlief Jenny ein.
    Als sie am nächsten Morgen aufwachte, war das Mädchen weg.

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    Erschrocken sprang Jenny auf, drehte sich im Kreis herum und spähte in den

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