Lucy's Song
erst gegessen. Also versuchte ich Lucy ein Stückchen zu geben, aber sie wollte nicht den Mund öffnen. Deshalb musste ich alle Stücke selbst essen. Es war kein besonders guter Kuchen.
»Zellgift«, erklärte Mama der Tante. Eine Krankenschwester hatte gerade den Tropf gewechselt, der bei Mama in den Arm führte. Jetzt war das kein Nährstoff, sondern Zellgift. »Ich muss noch zwei Tage damit weitermachen. Ich freue mich schon, wenn ich damit fertig bin.«
»Dann hoffen wir nur, dass es wirkt«, sagte die Tante. »Wir müssen einfach hoffen.«
»In zwei Wochen sind Sommerferien«, sagte ich. »Was machen wir dann?«
»Vielleicht kannst du ja mit dem Onkel in die Hütte fahren«, schlug die Tante vor.
»Schon, aber am liebsten möchte ich, dass wir alle etwas zusammen unternehmen. Die ganze Familie. Dass wir eine Reise machen.«
»Das wird wohl nicht gehen«, meinte sie.
»Ich weiß nicht, wie lange ich noch hierbleiben muss«, sagte Mama.
»Kommst du denn nicht nach Hause, wenn die Behandlung beendet ist?«
Mama schaute mich an.
»Auch wenn sie aufhören mit dem Zellgift, bin ich immer noch nicht wirklich gesund«, sagte sie. »Sie hören damit nur auf, weil ich nicht mehr davon vertrage. Bald wollen sie neue Proben machen. Dann werden wir sehen. Aber ich werde in den Wochen nach dieser Kur sicher müde und schlaff sein.«
Ich dachte an die Sommerferien. Sie zu überstehen war wohl das Schlimmste. Ich hatte keine Lust, mit meinem Onkel zur Hütte zu fahren. Das Einzige, was ihn interessierte, war angeln, er kam gar nicht auf die Idee, dass andere das nicht so spannend finden könnten. Dann konnte ich noch Fernsehen gucken. Bis jemand kam und meckerte, dass ich nicht den ganzen Tag Fernsehen gucken und lieber an die frische Luft gehen sollte. Zu Hause würde es noch unerträglicher werden. All die Leute, die kamen, um sich um Lucy zu kümmern. Und wenn sie selbst Urlaub machten, dann kam sicher eine Vertretung. So war es zu Ostern auch gewesen. Jeden Tag eine neue Vertretung. Ich musste zeigen, wo das Brotmesser und die Windeln lagen. Oje. Und mit meinen Freunden konnte ich mich auch nicht treffen, die waren sicher alle verreist. Und dann kamen all die Leute, die nett zu uns sein wollten. Alte Damen, die mich zum Essen einladen oder Sozialarbeiter, die lustige Sachen mit mir unternehmen und mich zu irgendeiner bescheuerten Veranstaltung mitschleppen wollten.
Ich ging auf den Flur, um Saft zu holen. Ein Mann saß vor dem Schwesternzimmer und las in einer Zeitschrift. Der Saftkrug war leer, deshalb ging ich hinunter zum Kiosk und kaufte stattdessen Limonade. Als ich wieder hochkam, war der Mann verschwunden. Ich nahm die Zeitschrift, die er liegen gelassen hatte. Vielleicht gab es etwas darin zu lesen.
Als ich mich wieder an Mamas Bett gesetzt hatte, fiel mein Blick auf den Artikel, den der Mann gelesen hatte. Es war ein ärztlicher Ratgeber. Jemand wollte wissen, ob an jedem Tag im Jahr gleich viele Menschen starben, worauf der Arzt antwortete, dass vor und während der Feiertage weniger sterben. Weihnachten oder Ostern. Sie warten bis danach, schrieb der Arzt.
Ich legte die Zeitschrift weg und dachte darüber nach. Das war ja fast das gleiche Thema, über das ich mit meinem Onkel gesprochen hatte. Leben zu wollen oder sich zu wünschen, zu sterben. Wenn man jeden Tag zu einem Feiertag machen könnte, dann würden die Leute gar nicht sterben wollen.
Ich ging hinaus auf den Balkon, um zu sehen, ob das rote Cabrio unten stand. Aber es war nicht da.
An diesem Abend setzte ich mich auf mein Bett, den Laptop auf dem Schoß. Paris. Ich wollte, dass Mama nach Paris fuhr, ich wollte, dass sie den Willen zum Leben hatte. Das war Mamas Traum. Das hatte sie selbst gesagt. Vielleicht träumte sie auch von anderen Dingen, das wusste ich nicht. Aber von diesem Traum wusste ich. Dem Traum von Paris. Wie in Lucy’s Song.
Zuerst guckte ich mir einen Stadtplan von Paris an. Die Stadt ist riesig, es wimmelt dort nur so von großen Straßen. Es war sicher möglich, auf einer Autobahn quer durch die Stadt zu fahren, ohne zu merken, dass man in Paris war. Doch das galt nicht.
Wenn man in einem Cabrio fuhr, dann musste es durchs Zentrum gehen. Am besten über die Champs-Élysées, die große Hauptstraße.
Dann suchte ich nach Hotels in Paris. Es gab Tausende. Ich versuchte herauszufinden, was so etwas kostet, aber das war gar nicht so einfach. Die wollten wohl, dass man anruft oder ihnen eine E-Mail schickt, um den Preis
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