Lügenbeichte
sie damals manchmal für Wochen nicht, obwohl er ihr in seinem neu gebauten Haus in Zehlendorf das schönste Zimmer einrichtete, mit fünf Fenstern und französischem Balkon. Aber sie fing erst an, das Zimmer einzuwohnen, als Lou ein Jahr später auf die Welt kam. Seitdem war sie auch unter der Woche öfter bei Thomas und Marina. Marina war zu Anfang sehr zurückhaltend ihr gegenüber, eifersüchtig, hatte Barbara vermutet. Aber dann war Marina doch froh, wenn Josikam und ihr Lou abnahm. Einen besseren Babysitter als Josi konnte Marina sich nicht wünschen. – Jetzt jedoch sah alles anders aus.
»Was vermutet denn die Polizei?«, wollte Barbara nun wissen. »Dass Lou entführt worden ist?«
»Ich weiß es nicht.«
»Recherchieren sie in diese Richtung?«
»Wie meinst du das?«
»Stellen sie Fragen, zum Beispiel, ob Thomas Feinde hat?«
»Ja, und ob Lou Feinde hat.«
»Lächerlich, ein fünfjähriges Kind hat doch keine Feinde!«
»Aber richtige Freunde hat er auch nicht, bis auf Carla, keine anderen Jungs, und am liebsten spielt er allein oder mit Erwachsenen.«
»Vielleicht ist er hochbegabt. Welches Kind kann sich denn heute noch so lange und so intensiv allein beschäftigen wie Lou und hat so eine tolle Fantasie! Als du neulich mit ihm hier warst, hat er eine ganze Stadt mit deinen alten Lego -Steinen gebaut und dann hat er seinen kleinen, roten Roboter durch die Straßen spazieren lassen und sich dazu eine Detektivgeschichte ausgedacht.«
»Ja, Herr Rufus löst jeden Fall«, sagte Josi und dann kamen ihr wieder die Tränen.
Als Mama merkte, dass Josi weinte, versuchte sie sie zu trösten. Dass Lou schon wiederkommen würde, er sei so ein intelligenter, kleiner Junge, nicht zu vergleichen mit Robi damals, der ja ein geborenes Opfer war,im wahrsten Sinne des Wortes. – Und schon war Barbara wieder bei ihrem Thema: Robert und seine kaputte Welt. »Wenn ich daran denke, wie verkorkst er am Anfang war, als er zu uns kam, der arme Kerl, ein geprügelter Hund, um den man ständig Angst haben musste. Und alles nur, weil seine Mutter eine alkohol-und drogenabhängige Prostituierte war und gerade mal sechzehn, als sie ihn bekam.«
Josi wollte das jetzt eigentlich nicht hören, sie kannte bereits jedes Detail, und es war wirklich unglaublich, dass Barbara sie selbst in dieser schlimmen Situation einfach mit ihrem Thema überrollte, weil sie sich anscheinend immer noch verantwortlich für Robert fühlte, ihren Exziehbruder der schon heroinabhängig und alkoholgeschädigt auf die Welt kam und noch fast sechs Jahre bei seiner Mutter, der Prostituierten, leben musste, bis er als Pflegekind bei den Herzbergs landete, wo er dann, völlig zurückgeblieben, verstört, aber sehr anhänglich, zum Lebensmittelpunkt ihrer Mutter wurde und es anscheinend immer noch war – so kam es Josi jedenfalls manchmal vor.
Josi hörte gar nicht richtig zu, lauschte nur Mamas Stimme, sie drang in sie ein wie Fiebersaft, kühlte ihre heißen Wangen und tat ihr gut. Als Mama innehielt, fragte Josi: »Wie geht es ihm eigentlich?« – mehr, um Barbara am Reden zu halten als aus Interesse. Sie hatte Robert mindestens vier Jahre nicht mehr gesehen, das letzte Mal zufällig auf der Straße, als sie mit Barbara unterwegs war. Sie waren dann Kaffee trinken gegangen. Robert hatte drei Stück Kuchen in sich hineingeschlungen und sie dabei mit diesen hungrigen, großenAugen angestarrt, vor denen sie sich schon als Kind gefürchtet hatte, als würde er sagen wollen: Wenigstens den Kuchen nimmt mir keiner mehr weg! Sie hatte sich so unwohl gefühlt wie in einem viel zu engen, kratzigen Pullover und keinen Bissen runterbekommen, den schlingenden Robert mit seinem vorwurfsvollen Blick vor sich, der ihr signalisierte, dass sie eine Familie habe, Vater und Mutter, die sich um sie kümmerten und sie nicht einfach weggaben. Das stimmte ja auch, aber was konnte sie denn dafür, dass er so viel Pech gehabt hatte in seinem Leben?
Barbara traf sich immer noch alle paar Wochen mit ihm, aber Josi hatte nie Lust, mitzukommen. Sie wusste auch nicht, was sie mit ihm reden sollte. Sie hatten keine Gemeinsamkeiten, noch nie gehabt, sie war einfach zu klein gewesen, um sich zu erinnern. Als Robert kam, war sie vier, und als er ging, sieben. Sie wusste nur noch, dass er, wenn er nicht gerade unter extremen Stimmungsschwankungen litt, ausrastete oder sich verkroch, sie immer beschützen wollte, vor irgendwelchen Männern und Monstern. Außerdem liebte er es, ihre
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