Luegenbeichte
die Schultern, holte eine Zigarette aus der Schachtel und zündete sie an, rauchte ein paar Züge und drückte die Zigarette auf dem Teller aus. Sie sagte nichts dazu, strich Butter auf ihr Brot und fragte sich, ob das jetzt das Ende seiner Familie war, so, wie es damals der Anfang vom Ende ihrer Familie war, und woran man eigentlich erkannte, dass Eltern einen »über alles« lieben.
Thomas rieb sich über die Bartstoppeln. Von dem Geräusch bekam sie Gänsehaut. Er stützte das Kinn in eine Hand und schaute Josi beim Essen zu.
»Weißt du, was los ist?«, fragte er. Seine Stimme war rau.
Sie nickte, sagte ihm jedoch nicht, woher. »Das war ja nicht zu überhören.«
Thomas räusperte sich. »Da … da war doch gar nichts.«
Sie wusste, dass er die Affäre meinte. Ihr Blut rauschte in ihren Schläfen.
»Ich … ich …«, stotterte Thomas und verstummte.
Josi schaute ihn an, in seine müden Augen.
Ja, du – dachte Josi. Immer nur du!
Dienstag
A-B-C, die Katze lief im Schnee, und als sie wieder nach Hause kam, da hat sie weiße Stiefel an …
4:27
Es war ein schmaler Weg. Rechts und links vom Weg ging es steil nach unten. Josi lief barfuß. Die kleinen Steinchen drückten in ihre Fußsohlen. Als sie genauer hinsah, waren es keine Steinchen, sondern lauter Figuren aus den Überraschungseiern. Jemand hatte den Weg mit Lous Sammlung gesät. Sie konnte nicht mehr weitergehen, sich nicht umdrehen, keinen Schritt nach links und keinen Schritt nach rechts machen. Sie war gefangen, unter freiem Himmel, und die Figuren unter ihren Füßen fingen an, sich zu bewegen, bohrten sich tiefer und tiefer in ihr Fleisch, wie Maden.
Josi hörte einen Knall, dann Stimmen.
Lou?!
Im Nu saß sie senkrecht im Bett, wagte nicht, sich zu bewegen, um nicht seitlich in die Tiefe zu stürzen, aber da war keine Tiefe. Da war nur ihr Bett und die Wand und gegenüber der Schreibtisch. Ihre Fußsohlen kribbelten, der Bienenstich pochte. Sie hörte Thomas und Marina.
Sie stieg aus dem Bett und ging auf den Flur, stand oben an der Treppe und dachte, sie träumte. Unten erschienen Thomas und Marina mit Lou. Lou war auf Marinas Arm. Jetzt wollte Thomas ihn auf den Arm nehmen. Lou schaute hoch zu ihr und lächelte, dann versteckte er das Gesicht in Thomas' Halsgrube.
Zwei Polizisten standen im Flur. Josi rannte die Treppe runter.
»Lou!«
Die Tränen sprudelten nur so aus ihr heraus, als wäre sie voller Kohlensäure und man hätte sie vorher geschüttelt. »Lou! Loulou!« Sie streckte die Arme aus. Lou hob den Kopf und sagte: »Josi, komm her!« Er sah müde aus, total dreckig, an seiner Hose hingen Spinnweben, Hände und Gesicht waren verschmiert, die Haare zerzaust. Lou streckte die Arme nach ihr aus, Josi pflückte ihn von Thomas. Ihr Bruder war wieder da!
Sie fühlte, dass er sich eingenässt hatte. Er roch streng und muffig.
»Wo kommst du denn her?«
Er strahlte sie an. Und gähnte.
»Du gehst jetzt erst mal in die Badewanne«, sagte Marina und wollte Lou wiederhaben, aber Lou rührte sich nicht, er hing wie ein Kissen in Josis Armen und sie musste aufpassen, dass sie ihn nicht zu fest drückte. Lou war wieder da! Ja, er war es. Und Josi hielt ihn ganz fest. Alles war wieder gut! Jetzt würde sie ihn nie, nie wieder aus den Augen lassen!
»Wir haben ihn Mexikoplatz, Ecke Spanische Allee aufgegriffen«, sagte ein Polizist. »Herrn Werner haben wir schon benachrichtigt. Er wird …« Der Beamte konnte seinen Satz nicht mal zu Ende sprechen, da klopfte es schon heftig an die Tür. Herr Werner kam mit seinen Krücken herein. Er hatte dunkle Ringe unter den Augen. Seine Strickjacke sah aus, als hätte er darin geschlafen. Der Verband am Fuß hatte Kaffeeflecke. Herr Werner trat näher an Lou heran, kniff dieAugen zusammen und musterte ihn von Kopf bis Fuß. Lou drückte sein Gesicht an Josis Schulter und reagierte nicht, als Herr Werner ihn mit Namen ansprach.
»Am besten, wir fahren jetzt gleich ins Krankenhaus und lassen ihn untersuchen«, sagte Herr Werner.
»Aber erst baden wir ihn«, sagte Marina.
»Der muss doch jetzt nicht gebadet werden«, sagte Thomas.
»Natürlich muss er gebadet werden!«
»Lasst ihn doch einfach mal in Ruhe«, sagte Josi. »Er ist total erschöpft.« Sie flüsterte ihm ins Ohr: »Loulou, geht es dir gut?« Lou nickte schwach an ihre Schulter. »Tut dir was weh?« Er schüttelte den Kopf und schmunzelte seinen Papa an, dann gähnte er wieder und hängte sich an Josi. So schlapp war er doppelt so
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