Luegenbeichte
Haare zu kämmen. Er war sehr vorsichtig dabei, es hatte nie geziept. Ansonsten musste Josi immer Rücksicht auf ihn nehmen, auf ihren neuen »großen Bruder«, auf den sie sich zu Anfang so gefreut hatte, mit dem man aber nicht spielen konnte und der die ganze Kraft und Aufmerksamkeit ihrer Mutter für sich beanspruchte.
»Das letzte Mal haben wir uns in Neukölln in der Kuchenmanufaktur getroffen«, sagte Barbara. »Er hat zwei Stücke American Cheesecake und eine Apfeltartegegessen, du weißt ja, Süßes liebt er doch so. Er hat auch nach dir gefragt. Hab ich dir denn die Grüße von ihm gar nicht ausgerichtet?«
»Doch, doch.«
»Stell dir vor, er macht jetzt was mit Computern, entwickelt irgendwelche Spiele, ganz professionell, mit anderen Leuten zusammen – arbeitet sogar in einem Team. Ich bin so froh, dass er Anschluss gefunden hat und jetzt gut zurechtkommt. Er wohnt auch nicht mehr in der WG in Steglitz, sondern hat eine sehr günstige Wohnung, direkt am Schlachtensee, bei einem älteren Herrn, zur Untermiete.«
Josi hatte jetzt genug von Mamas Robert-Geschichten. Sie wollte das Telefongespräch beenden, aber Mama musste ihr unbedingt noch schnell was sagen.
»Eva hat mir wieder eine Postkarte geschrieben.« Josi brauchte einen Moment, um zu kapieren, von wem Barbara redete: von Roberts Mutter, der Prostituierten.
»Mehr oder weniger das Gleiche wie immer: erst zwei Sätze über ihr Befinden, dann Regeln bezüglich Robert.« Josi kannte diese Karten, die seit jeher in unregelmäßigen Abständen kamen.
»Und was waren es diesmal für Regeln?«
»Robert soll sich was auf den Kopf setzen.«
»Bei dieser Hitze?«
»Vielleicht meinte sie einen Sonnenhut.«
Man wusste nie, was Eva mit ihren Ratschlägen meinte. Roberts Psychologin hatte mal gesagt, das seien nur Mittel, um ihre Schuldgefühle zu lindern, und ihre Unfähigkeit, ihm eine gute Mutter zu sein zu kompensieren.Josi hätte nie gedacht, dass Schuldgefühle einen so lange quälen und einem derart zusetzen konnten, dass man gute Ratschläge für ein Kind gab, das schon lange kein Kind mehr war. Robert wurde im September 20!
»Bist du sicher, dass du nicht herkommen willst?«, fragte Mama. Josi sah auf dem Display, dass sie schon über eine Stunde mit Barbara telefonierte. Trotzdem hatten sie kaum über Lou, die Leiche oder Thomas gesprochen. Aber vielleicht wollte Mama sie gerade davon ein bisschen ablenken.
»Ja«, sagte Josi. »Ich ruf dich morgen früh an und dann sehe ich weiter.«
»Meine große, feine, starke Tochter«, sagte Barbara. »Wie sehr ich dich liebe!«
Josi saugte die Worte ein wie ein Schwamm. »Ich dich auch, Mama.«
»Ich wünschte, ich könnte dir was abnehmen von deiner Last.«
»…«
»Gute Nacht, Josi.«
»Gute Nacht, Mama!«
Dann lag Josi da, auf dem Bett, und hatte das Gefühl, in ihr tickte eine Uhr.
23:27
Später hörte Josi Thomas ins Wohnzimmer gehen, dann in die Küche. Sie konnte auch nicht schlafen, außerdem knurrte ihr Magen. Ihr Vater saß am Küchentischund trank Tee, schaute von der Tasse hoch, als sie in die Küche kam.
»Willst du auch einen? Es ist noch heißes Wasser da.«
Sie goss sich Tee auf, ging zum Kühlschrank und nahm ein Stück Käse heraus.
Die vier Muffins standen noch da, auf die Hälfte eingeschrumpelt. Warum hatte sie Herrn Werner nur angeschwindelt? Sie wollte das gar nicht, aber er hatte so falsche Annahmen mitschwingen lassen und total genervt. Hatte ihr Vater aus einem ähnlichen Grund gelogen?
»Wie geht es deinem Fuß, Josi?«
»Okay.«
»Gut, dass du nicht allergisch bist.«
»Ja.«
»Sonst wäre jetzt schon das ganze Bein geschwollen.«
Sie ging zum Schrank und holte Brot, stellte zwei Teller auf den Tisch, ohne Thomas zu fragen, ob er auch ein Brot wolle. Er schaute ihr zu, wie sie Butter aus dem Kühlschrank holte. Früher hatte er ihr manchmal Brote geschmiert. Sie mochte es, wie gleichmäßig er die Butter über das Brot verteilte und den Schinken so legte, dass nichts überlappte. Dann schnitt er das Brot in drei Teile. Barbara hatte die Brote immer halbiert. Aber drei Teile schmeckten besser, fand Josi – nach Vater, Mutter, Kind. Josi ließ die Scheibe ganz und reichte sie ihm.
»Wir müssen was essen«, sagte sie.
Er schaute auf das Brot, ohne es anzurühren. Er sah schrecklich aus!
»Du musst dich unbedingt rasieren.«
Er fühlte über sein Kinn und nickte. Sie konnte seinen wehmütigen Blick nicht ertragen.
»Und, was ist jetzt?«.
Er zuckte
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