Luegenbeichte
die letzten Nächte. Dabei hatte dieser Albtraum »nur« zweieinhalb Nächte gedauert. Wie schnell doch normale Nächte vorüber waren, wenn alles seinen normalen Gang ging. Jetzt war alles wieder normal, so normal, dass Josi es gar nicht fassen konnte. Das Bett war unglaublich bequem und weich, und wenn sie die Augen zumachte, schlief sie gleich ein. Allerdings wachte sie sofort wieder auf, hatte noch den Schreck in den Knochen, der jedoch mit dem ersten klaren Gedanken weggewischt wurde.Lou war wieder da! Kein Bangen mehr, das sich wie Würmer in Muskeln und Gedärme bohrte und sie steif und ängstlich machte.
Marina hatte sich mit Lou ins Gästezimmer verdrückt. Sie wollte das Bett nicht mit Thomas teilen. Sie sprach nur das Nötigste mit ihm. Thomas lag allein auf dem großen Futon. Einen Moment lang dachte Josi, sie könnte zu ihm gehen, unter seine Decke kriechen und sich an seinen Rücken schmiegen. Sie hatte Sehnsucht nach ihrem Papa, aber sie traute sich nicht. Sie hatte sich schon jahrelang nicht mehr an ihn gekuschelt. Bestimmt würde er sagen, er wolle jetzt schlafen, so, wie er immer sagte, er wolle jetzt arbeiten, was nichts anderes hieß, als dass er allein sein wollte.
Josi schrieb Max eine SMS und rief Barbara an, aber da meldete sich nur der Anrufbeantworter, auf ihrem Handy auch. »Lou ist wieder da«, sagte sie, drehte sich auf die andere Seite, schlief ein, schreckte aber sofort wieder auf. Sie hatte Sehnsucht nach Lou. Alles in ihrem Körper zog und sehnte sich nach ihrem kleinen Bruder, mit dem sie jetzt so gern im Bett liegen würde, damit sie ihn fühlen und sehen konnte, sicher war, dass er wirklich wieder da war!
6:07
Draußen war es hell, Vögel zwitscherten. Ab und zu fuhr ein Auto vorbei. Sie würde heute noch nicht in die Schule gehen, sie wollte bei Lou bleiben. Herr Werner hatte gesagt, er würde am Nachmittag mit einer Kinderpsychologin wiederkommen, aber bis dahinwürde Lou ihr bestimmt schon alles erzählt haben. Sie drehte sich auf die Seite und kuschelte sich noch mal ein.
6:45
Geräusche auf dem Flur. Sie hob den Kopf. Kein Zweifel, Lou tapste die Galerie entlang. Ihre Klinke wurde heruntergedrückt, die Tür ging auf. Da war er, der Schelm, lächelte sie an, zögerte einen Moment, als fragte er, ob er zu ihr ins Bett dürfte. Josi hob die Decke hoch und im Nu war er bei ihr. Sie kitzelte ihn, er gluckste und kicherte, sie pustete ihm in den Nacken, schlang ihre Arme um ihn und hielt ihn fest. Er roch nach Marinas Shampoo, Gold shine blond .
»Lou«, flüsterte sie ihm ins Ohr. »Loulou.«
»Hm«, sagte er. Sie bemerkte, wie schwarz seine Fingernägel immer noch waren, als hätte er in der Erde gebuddelt.
»Fehlt dir was?«
»Herr Rufus«, sagte er gleich. »Ich habe ihn verloren.«
»Nein, Herr Rufus ist bei mir. Der hat mich die ganze Zeit gefragt: Wo ist Lou? Warum ist er ohne mich weggegangen?«
»Ich bin nicht weggegangen.«
»Was ist denn passiert?«
»Weiß nicht.«
»Weißt du denn noch, wie du auf dem Sofa gesessen hast und Das Dschungelbuch geguckt hast?«
»Ja. Und dann kam der Roboter.«
»Welcher Roboter?«
»Robbi, mein neuer Roboter. – Kann ich Herrn Rufus wiederhaben?«
»Und dann?«
»Weiß nicht. Kann ich Herrn Rufus wiederhaben?«
»Ja, klar. Gleich. – Bist du auf die Terrasse gegangen?«
»Ich habe die Tür aufgemacht. Robbi wollte rein. Wo ist Robbi jetzt?«
»Den hat doch die Polizei mitgenommen.«
»Polizei? Aber er hat doch gar nichts getan!«
»Hat dir denn jemand was getan?«
»Nein. Der alte Mann war lustig.« Lou tippte sich an die Stirn.
Josi versuchte, ruhig zu bleiben, obwohl ihr das Blut in den Schläfen pochte.
»Was für ein alter Mann, Lou?«
Lou fielen die Augen zu. Er schlief ein. Josi streichelte ihm die Stirn. Was für einen alten Mann meinte er? Etwa Herrn Dittfurth? Josi schlüpfte vorsichtig aus dem Bett und holte Herrn Rufus aus ihrer Jeanstasche. Sie legte den kleinen roten Detektiv neben den großen schlafenden Detektiv aufs Kissen.
7:30
Josi schrieb einen Zettel und ging runter. Sie hörte Geräusche aus der Küche. Sie lief über den Flur, zum Gästezimmer. Die Tür stand halb offen. Sie sah Marina im Bett, sie schlief. Knallpinke Ohrstöpsel guckten aus ihren Ohren, Augenmaske. Sie legte den Zettel vor Marinas Bett. »Lou ist bei mir«, stand darauf. Nicht, dassMarina einen Schreck bekäme, wenn sie aufwachte und Lou nicht mehr bei ihr war.
Sie schloss die Gästezimmertür und ging ins Wohnzimmer.
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