Luegenherz
während lodernder Zorn durch meine Adern brodelt. Ich schleiche mich an und lausche an der Tür. Ich höre ein Schmatzen, als ob sich zwei küssen. Mir wird schlecht.
»Nein, ohhh, tu das nicht«, höre ich da Jury stöhnen.
Ich reiße die Tür auf. »Was ist hier los?«
Die beiden drehen ihre Köpfe ruckartig zu mir und Mila springt hastig vom Bett auf. Sie sieht so aus wie immer, mit diesem süßen unschuldigen Rehblick wirkt sie völlig harmlos.
»Ally, was machst du hier mitten in der Nacht?«, fragt Jury und er klingt nicht sehr begeistert.
»Und was machst du hier, Mila?«
»Um ehrlich zu sein, versuche ich, über deinen Bruder an dich ranzukommen.«
»Hey!«, protestiert Jury.
Ich drehe mich wortlos zur Tür um.
Mila rennt hinter mir her und folgt mir so aufdringlich, dass ich trotz der Schmerzen im Bein in mein Zimmer renne und es gerade noch schaffe, die Tür hinter mir zu verrammeln.
Ich will dieser Lügnerin nie wieder in die Augen sehen.
42. Mila
Jetzt dreht sie auch noch demonstrativ den Schlüssel um!
»Ally, bitte gib mir eine Chance, nur diese eine Chance. Ich möchte dir so gern alles erklären.«
»Wozu?« Allys Stimme klingt sehr gedämpft durch die Tür.
»Es ist mir wichtig.«
»Mir nicht.«
»Na gut, dann rede ich eben durch die Tür mit dir. Du musst mir einfach zuhören.«
»Spar dir die Mühe, ich werde meine Kopfhörer aufsetzen.«
Ein Klappern und Rascheln ist zu hören, schließlich leises Fluchen. Ich schaue durchs Schlüsselloch, aber ich kann nichts sehen.
»Ally, es tut mir leid. Und ich weiß, dass du mich hasst, aber ich will versuchen, es dir zu erklären.«
»Ich hasse dich nicht«, zischt sie, »du bist mir einfach nur egal.«
»Ich weiß, wie sich Hass anfühlt. Du musst wissen, wir waren immer schon eine komische Familie. Ich habe gespürt, dass irgendetwas nicht in Ordnung ist, und dachte, ich bin diejenige, mit der etwas nicht stimmt. Landgraf war oft weg und meine Mutter hat es so hingestellt, als ob das meine Schuld wäre, hat mir immer wieder gesagt, dass er nie ein Kind gewollt hätte, genauso wie er nie heiraten wollte. Ich habe mir permanent Mühe gegeben, gut zu sein, in der Schule, im Sport, und ich habe mich aus allem Ärger herausgehalten – aber er war trotzdem ständig unterwegs und hat einfach das gemacht, worauf er Lust hatte.« Ich halte inne und lausche.
Nichts. Stille.
Aber ich werde das jetzt durchziehen.
»Als ich größer wurde, durfte ich immerhin mit ihm Höhlenklettern und ich habe mich wahnsinnig angestrengt, meinem Vater zu imponieren. Doch je älter ich wurde, desto seltener wollte er, dass ich mitkomme. Er hat es so hingedreht, dass es unfair gegenüber Mama wäre, weil sie dann allein zu Hause rumsitzen würde. Und ich hab ihm geglaubt, fand ihn unheimlich rücksichtsvoll – schließlich ist er eine Sportskanone, während meine Mutter ihre Freizeit am liebsten auf der Couch verbringt. Aber die Wahrheit war eine komplett andere. Die Klettergruppen wurden seine Ausrede, wenn er sich mit anderen Frauen treffen wollte. Nachdem ich das kapiert hatte, fand ich ihn zwar ziemlich widerlich, aber ich dachte, das wären eben Affären, wie alle Männer sie haben. Ich war unheimlich naiv und habe mir die Dinge schöngeredet.«
Ich halte inne, lausche erneut in die mitternächtliche Stille und weiß nicht, ob ich überhaupt weiterreden soll. Ich glaube nicht, dass Ally zuhört, und plötzlich fühle ich mich, als ob ich in diesem Riesenhaus ganz allein wäre.
»Ally?«
Stille. Soll ich zurück zu Jury gehen und aufgeben? Nein, solange es nur den kleinsten Hoffnungsschimmer gibt, dass sie auf der anderen Seite steht und mich anhört, muss ich versuchen, zu ihr durchzudringen.
»Vor zwei Jahren sollte ich ein Jackett von ihm in die Reinigung bringen. Dort haben sie seine Taschen ausgeleert und einen Fahrzeugschein gefunden, den sie mir gegeben haben. Aber es waren nicht die Papiere für unseren Käfer oder den Lieferwagen.« Ich muss schlucken, weil die Erinnerung an diese Entdeckung auf einmal wieder lebhaft vor mir steht. »Also habe ich angefangen, ihm hinterherzuspionieren, und habe schließlich etwas herausgefunden, was mich vollkommen aus der Bahn geworfen hat. Landgraf hatte nicht bloß Affären, sondern auch noch eine andere Familie, und zwar in München, mit allem was dazugehört. Haus, Garten, Auto, Frau und Kind. Diese Frau hat er geheiratet, sie trägt seinen Namen und er hat mit ihr einen Sohn. Stell dir das vor, er
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